Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
es ist kaum meine Schuld. Andrew hätte seiner Sorgfaltspflicht eben besser nachkommen müssen.« Cheng erhob sich. »Ich habe noch andere Termine.«
Ava fuhr im Aufzug zum Erdgeschoss, wartete aber, bis sie wieder auf der Straße war, bevor sie Onkel anrief. Sie fasste das Gespräch mit Cheng kurz für ihn zusammen und fragte ihn danach: »Könntest du ein Treffen mit Frank Seto für mich arrangieren?«
»Ich kenne ihn nicht. Carter Chan schon, aber wenn ich blutend in der Gosse läge, würde er mir noch einen Tritt verpassen«, sagte er. »Es gibt allerdings jemanden, der Carter und vermutlich auch Frank Seto kennt.«
»Wer?«
»Dein Vater.«
7
M arcus Lee schien nicht überrascht, von seiner Tochter zu hören, aber das war er nie. Ob sie sich vor sechs Tagen, Wochen oder Monaten zuletzt gesehen hatten, er benahm sich stets, als hätten sie gerade erst zusammen gefrühstückt.
»Hallo, Schätzchen«, sagte er. »Bist du in Hongkong?«
Als sie in seinem Büro angerufen hatte, teilte ihr die Sekretärin mit, er sei in einem Meeting und dürfe nicht gestört werden. »Können Sie ihm ausrichten, seine Tochter Ava habe angerufen?«
»Oh, einen Moment«, sagte die Frau. »Für Sie ist er immer erreichbar.«
Aus irgendeinem Grund freute sie das, ebenso wie die Tatsache, dass er sie bei der Begrüßung »Schätzchen« nannte.
»Ja, ich bin in Hongkong.«
»Komisch, als ich heute Vormittag mit deiner Mutter telefoniert habe, hat sie von deiner Reise nichts erwähnt.«
»Eine kurzfristige Planänderung. Eigentlich muss ich nach Bangkok, aber ich habe hier noch etwas zu erledigen.«
»Wo bist du?«
»Ich bin gerade auf der Hongkonger Seite von Bord der Star Ferry gegangen.«
»Es ist fast Mittag. Begleitest du mich zum Lunch?«
»Wieso nicht?«
»Im Shangri-La-Hotel gibt es ausgezeichnete Dim Sum. Nimm dir ein Taxi, und wir treffen uns dort in zehn Minuten.«
Ihr Vater wartete bereits an der Hotelrezeption. Er war knapp 1,80 groß, schlank und, anders als die meisten Männer in mittleren Jahren, kein bisschen in die Breite gegangen. Seine Haare waren noch rabenschwarz und der Mode entsprechend im Nacken etwas länger. Gott, wie gut er aussieht , dachte sie. Er trug einen dunkelgrauen Anzug mit einem weißen Hemd und einer roten Seidenkrawatte – der Inbegriff konservativer Eleganz.
Ihre Mutter schwor, dass Ava ihrem Vater von all seinen Kindern am meisten ähnelte, obwohl sie von den vier Söhnen der ersten Frau nur Fotos gesehen und die Kinder der dritten noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Ava war nicht nur ebenso schlank und attraktiv, sie hatte wie ihr Vater das gewisse Etwas: eine Kombination aus gutem Aussehen, sicherem Auftreten und Selbstvertrauen.
Als Marcus Lee sie entdeckte, winkte er und kam ihr durch die Lobby entgegen. Er breitete die Arme aus, und sie umarmten sich. Ava spürte die vielen Blicke, die sie auf sich zogen.
»Du siehst reizend aus, Schätzchen«, sagte er.
»Danke, Daddy. Du siehst auch toll aus.«
»Ich gehe immer noch joggen und achte auf mein Gewicht.«
»Das sieht man.«
Das Restaurant war voll, aber einer der Tische war für sie reserviert. Ihr Vater bestellte das Dim-Sum-Menü, ohne sie zu fragen. Das war eines der Dinge, die ihrer Mutter an ihm gefallen hatte: dass er immer die Führung übernahm.
»Wie ich deiner Mum heute Vormittag erzählt habe, fliege ich im Mai, wenn das Wetter besser wird, nach Toronto. Vielleicht bleibe ich den ganzen Monat. Ich hoffe, du bist ebenfalls da.«
»Das ist noch lange hin, und bei meinem Job …«
»Jedenfalls weißt du Bescheid. Ich habe ihr einen Familienurlaub vorgeschlagen. Wir nehmen deine Schwester, ihre Kinder und dich auf eine Kreuzfahrt mit, auf die Bahamas oder so.«
»Wie gehts dem Rest der Familie?«, fragte Ava und ignorierte den Vorschlag.
»Gut, ausgezeichnet. Jamie und Michael sind im Geschäft. Sie sind zwar beide noch nicht verheiratet, aber Michael wohnt jetzt zum ersten Mal mit einem Mädchen zusammen. David ist dabei, in Australien seinen Ph.D. zu machen und sich selbst zu finden. Peter arbeitet bei der Barclays Bank.«
Sie war jedes Mal erstaunt, wie entspannt er ihr von den Kindern aus erster Ehe erzählen konnte. Noch überraschender war, dass ihre Mutter ebenfalls über sie sprach und stolz auf sie war, als seien sie Teil ihrer Großfamilie. Ava fragte sich, ob das umgekehrt genauso zutraf. Wussten die Söhne ihres Vaters überhaupt, dass es sie gab?
»Ja, Mum hat es erwähnt«, erwiderte
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