Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
sie.
Der Kellner stellte eine kleine Terrine scharfer saurer Suppe auf den Tisch. Ihr Vater füllte die Schalen.
»Und, was führt dich diesmal gen Osten?«
»Der Beruf«, erwiderte sie.
»Arbeitest du immer noch für Chow?«
»Ja, natürlich.«
»Ich wünschte, es wäre nicht so.«
»Ist es aber.«
»Sei vorsichtig«, sagte er, wie jedes Mal, wenn Onkel zum Gesprächsthema wurde.
»Daddy, ich bin Steuerberaterin.«
Er sah sie kurz an. Sie spürte ein nervöses Flattern im Magen, wurde rot und sah sich mit der Tatsache konfrontiert, dass sie diesen Mann nicht hinters Licht führen konnte. Er war über ihren Beruf im Bilde, und obwohl sie wenig über ihre Arbeit preisgab, war er lange im Geschäft und kannte Hongkong und China gut genug, um zu wissen, was sie beinhalten konnte.
»Und worum geht es bei deinem Auftrag?«
»Das Übliche. Jemand hat sich mit dem Geld eines anderen aus dem Staub gemacht, und ich muss es finden und dem rechtmäßigen Eigentümer zurückgeben.«
»Das klingt so einfach.«
»Ist es auch.«
»Kenne ich die Beteiligten?«
»Ich glaube nicht, und selbst wenn, dürfte ich dir nichts verraten.«
»Weshalb hast du mich denn angerufen?«
Er stellte die Frage ruhig, aber direkt; sie konnte ihn nicht anlügen. »Ich muss mit einem Mann namens Frank Seto sprechen. Er ist der Schwiegersohn von Carter Chan. Ich bin mir ziemlich sicher, auf eigene Faust werde ich nicht zu ihm vorgelassen. Ich hatte gehofft, du könntest mir helfen.«
»Ich kenne Frank nicht sehr gut«, sagte er. »Trotzdem, ich kann mir nicht vorstellen, dass er in unlautere Geschäfte verwickelt ist.«
»Er nicht, aber ich muss seinen Bruder finden, und bisher bin ich nur in Sackgassen gelandet. Ich hoffe, Frank kann mir helfen.«
Das Essen kam: Shumai, gebratener Rettichkuchen, mit Salz gebratene Muscheln und gedämpfte Entenfüße mit Pilzen.
»Ich weiß nicht, ob es etwas bringt, wenn ich Frank anrufe. Vielleicht erinnert er sich gar nicht mehr an mich. Carter und ich blicken dagegen auf eine lange, zwischenfallsfreie Bekanntschaft zurück. Auf seine seltsame Art betrachtet er mich womöglich sogar als Freund. Ich rufe ihn an, mal sehen, was er arrangieren kann. Du willst mit Frank sprechen, richtig?«
»Ja, vielen Dank, Daddy.«
»Wärst du mir sehr böse, wenn ich mitkäme?«
Sie sah auf.
»Es würde das Ganze vereinfachen«, sagte er.
»Was willst du ihm erzählen? Ich meine, über mich?«
»Dass du meine Tochter bist, natürlich. Was hast du denn erwartet?«
»Ich weiß nicht. Ich meine, Mum, Marian und ich leben in einer ganz anderen Welt. Das hier ist deine Welt. Ich habe keine Ahnung, wer worüber Bescheid weiß.«
»Du bist kein Geheimnis, falls du das meinst.«
»Ich glaube, ich brauche keine weiteren Erklärungen«, sagte sie.
»Tja, und falls doch, frag mich einfach. Ich weiß, den Leuten aus dem Westen kommt es vor, als würden ein paar von uns Chinesen ein wahnsinnig kompliziertes Leben führen. Tatsächlich trifft das Gegenteil zu. In unserer Tradition gibt es Regeln, und solange sich jeder – einschließlich der Frauen – daran hält, herrscht in der Familie Harmonie. Was wäre die Alternative? Scheidung? Heimliche Geliebte? Chaotisch und schmerzlich.«
Stumm saß Ava da, ein Shumai zwischen den Stäbchen.
»Ich weiß, es ist altmodisch, aber so wurde ich erzogen, und es lässt sich nicht mehr ändern«, sagte er.
»Nein, wahrscheinlich nicht.«
Sie aßen zu Ende und setzten sich anschließend in die Hotellobby. Er schaltete sein Handy ein. »Es könnte einen Moment dauern«, sagte er zu ihr. »Man muss zuerst an der Empfangsdame und mindestens zwei persönlichen Assistentinnen vorbeikommen.« Obwohl ihr Vater direkt unter der kalten Beleuchtung einer Deckenlampe saß, sah er immer noch zehn bis fünfzehn Jahre jünger aus, als er war. Mehrere Frauen in ihrem Alter musterten ihn beim Vorbeigehen, wie Ava auffiel.
»Marcus Lee, könnte ich bitte mit Carter Chan sprechen?«, sagte er. Es dauerte weniger als eine Minute. »Hallo Carter, hier spricht Marcus … Gut, danke. Und dir? Und deiner Familie? … Genau genommen geht es um deine Familie. Könntest du mir einen persönlichen Gefallen tun? Meine Tochter Ava muss mit deinem Schwiegersohn sprechen. Es geht nicht direkt um ihn, dich oder deine Interessen. Sie ist Wirtschaftsprüferin und arbeitet an einem Fall, der Franks Bruder betrifft. Viel mehr weiß ich auch nicht … Ach, ja? Kannst du mir eine Nummer geben, unter der sie
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