Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
Schrittgeschwindigkeit ganz von der Menge bestimmt wurde. Ava und Onkel waren von allen Seiten eingekeilt. Die Straßen in Central waren ein Alptraum für Klaustrophobiker.
Der Nudelimbiss war wenig mehr als eine Garküche mit zehn Tischen und pinkfarbenen Plastikstühlen. Er war fast vollbesetzt, aber ein Mann mit Schürze kam hinter der Theke hervor und befahl zwei jungen Männern, sich an einen anderen Tisch zu setzen, an dem noch Stühle frei waren. Dann bedeutete er Onkel und Ava, Platz zu nehmen, und verbeugte sich, als Onkel an ihm vorbeiging.
Ava bestellte Har Gow – Teigtaschen mit Shrimpsfüllung – und eine Suppe mit weichgekochten Nudeln. Onkel bestellte für sie beide Lo Mein -Nudeln mit Rindfleisch und einen Teller mit Gai Lin , gedämpftem chinesischem Spinat in Austernsauce.
»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte er, während sie auf das Essen warteten.
»Gesund und munter wie immer.«
»Eine verrückte Frau.«
Avas Mutter war ungemein kontaktfreudig und schloss so leicht Freundschaften, wie andere ihre Kleider wechselten. Selbst die Freunde ihrer Töchter waren von ihren Aufmerksamkeiten nicht ausgenommen. Marian empfand das als lästig, aber Ava störte es wenig; sie sah darin nur einen weiteren Aspekt der allumfassenden Neugier ihrer Mutter auf ihrer beider Leben. So hatte es ihr wenig ausgemacht, als ihre Mutter, die gerade in Hongkong Freunde besuchte, Onkel anrief und ihn um ein Treffen bat, damit sie den Arbeitgeber ihrer Tochter in Augenschein nehmen konnte. Hätte sie bei einer nordamerikanischen Firma in Toronto gearbeitet, wäre ihr das Verhalten ihrer Mutter peinlich gewesen, aber nur, weil man es dort nicht verstanden hätte. Onkel kannte chinesische Mütter, und sie kamen bei ihrer Begegnung so gut miteinander aus, dass Jennie Lee sich nicht scheute, von Zeit zu Zeit in Kowloon anzurufen. »Kontakte pflegen« nannte sie das.
»Sie lässt dich grüßen«, sagte Ava zu Onkel.
Er quittierte die Lüge mit einem Achselzucken. »Rufst du deinen Vater an, während du hier bist?«
»Wahrscheinlich nicht.«
Die beiden Männer waren sich nie begegnet, kannten einander jedoch vom Hörensagen, wie bei den Reichen und Mächtigen in Hongkong üblich. »Vielleicht ist es besser so. Ich habe gehört, seine Frau in Australien macht ihm Ärger.«
Das war Ava neu, und die Überraschung stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Sehr klug von ihm, alle voneinander zu trennen. Ich habe allerdings keine Ahnung, woher er die Zeit und die Energie nimmt, alle drei zufriedenzustellen.«
Das Essen kam. Ava schenkte den Tee ein. In dem überfüllten Restaurant herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Onkel schlang das Essen hastig hinunter. Ein ungewöhnlicher Zug an einem Mann, der sonst so viel Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte. Manchmal fragte sich Ava, ob das nicht eher seiner wahren Natur entsprach als die verbindliche, souveräne Fassade, die er zur Schau trug.
»Es ist zwecklos, Jackson Setos Wohnung in Wanchai aufzusuchen«, sagte er und schob den leeren Teller beiseite. »Ich habe heute jemanden dorthin geschickt. Er war schon seit sechs Monaten nicht mehr dort.«
»Hat er hier noch andere Adressen?«
»Nein.«
»Eine Hongkonger Telefonnummer?«
»Nein, aber eventuell weiß Henry Cheng mehr. Er hat Seto mit Andrew Tam zusammengebracht. Du hast morgen um elf einen Termin bei ihm in seiner Firma. Er hat keine Ahnung, was du von ihm willst, aber er dürfte kooperieren. Einer meiner Freunde hat ihn angerufen und das Treffen vereinbart.«
»Wo liegt seine Firma?«
Er reichte ihr einen Zettel. »Auf der Kowloon-Seite, in der Nathan Road.«
»Ich überlege, ob ich mich mit Andrew treffen soll.«
»Wieso wartest du nicht das Gespräch mit Henry Cheng ab?«, erwiderte Onkel. »Und selbst dann ist es vielleicht keine gute Idee. Was hast du schon zu berichten? Dass du weißt, wo sein Geld ist? Was nützt ihm das? Es würde nur falsche Hoffnungen wecken.«
»Ich lasse es mir durch den Kopf gehen.«
»Weißt du, früher hat sich mein Freund, Andrews Onkel, alle drei Wochen bei mir gemeldet. Jetzt ruft er zweimal pro Tag an. Er macht sich große Sorgen um seinen Neffen. Die Familie ist nicht reich genug, um einen so hohen Verlust verkraften zu können. Es wäre fatal für sie. Wenn er anruft, sage ich ihm, ich weiß von nichts. Und das werde ich weiterhin tun, bis du mir sagst, der Fall ist abgeschlossen, so oder so.«
»Ich muss Seto finden.«
»Womöglich kann Cheng dir dabei
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