Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
helfen.«
»Und George Antonelli, der Partner in Bangkok.«
»Unsere Freunde in Bangkok arbeiten schon daran. Wenn du dort ankommst, müssten sie alle nötigen Informationen haben.«
»Antonelli wird kaum Zugriff auf das Geld haben. Nach allem, was ich weiß, hat Seto sämtliche Vollmachten.«
»Aber über Antonelli kommst du an Seto heran.«
»Genau.«
Arm in Arm schlenderten sie zurück zum Hotel. Der Mercedes war in der Nähe des Eingangs geparkt. Sonny stand neben der Fahrertür und sah ihnen entgegen. Er öffnete Onkel die Tür und half ihm beim Einsteigen. Nach der Verabschiedung ging Ava zum Hoteleingang. »Melde dich bei mir, wenn du dich mit Cheng getroffen hast«, rief Onkel ihr nach.
6
D as Mandarin Oriental gehörte zu Avas Lieblingshotels. Das erste Haus der Kette war im Jahr 1887 am Ufer des Chao Phraya in Bangkok gebaut worden. Sie hatte es entdeckt, als sie mit einer Bankerin liiert und mit ihr zu einer viertätigen Konferenz gereist war. Sie hatten sich die Somerset Maugham Suite im Author’s Wing geleistet. Wenn die Bankerin morgens zu ihren Meetings fuhr, bestieg Ava die hoteleigene Fähre und begab sich über den Fluss in die ebenfalls hoteleigene Wellness-Anlage, um sich dort verwöhnen zu lassen.
Ihre Nachmittage hatte sie teils in der Author’s Lounge verbracht, wo sie sich mit den Werken von Joseph Conrad und Graham Greene vertraut machte, und teils auf der Restaurant-Terrasse mit Blick auf den Chao Phraya. Obwohl sie keine Literaturhistorikerin war, beeindruckte sie die Tatsache, dass Conrad, Greene, Maugham, Noel Coward und James Michener im Mandarin Oriental Hotel abgestiegen waren und angeblich sogar dort geschrieben hatten. Auch der Fluss besaß eine ganz eigene Anziehungskraft. Auf dem breiten, braunen, träge dahinfließenden Strom herrschte rege Betriebsamkeit wie auf einem nordamerikanischen Highway. Er war übersät mit Schiffen, Schleppern und Lastkähnen, die aus dem Golf von Thailand Richtung Norden ins Landesinnere fuhren. Die Wassertaxis und Fähren, die ihren Weg von Westen nach Osten kreuzten, mussten den größeren Wasserfahrzeugen ausweichen.
Da ihre Freundin abends offizielle Verpflichtungen hatte, aß Ava meist allein im Hotel. Es gab ein chinesisches Restaurant – das China House – auf dem Hotelgelände neben dem Hauptgebäude, das die wohl beste chinesische Küche servierte, die Ava je gekostet hatte: zwölf Stunden lang sanft geschmorte Abalone, gebratenes Schwarzes Hühnchen und in Sojasauce marinierte Seebrasse.
Am meisten hatte sie jedoch der Service beeindruckt. Er war nicht nur ausgezeichnet – das gehörte in jedem asiatischen Fünfsternehotel zum Standard –, sondern das Personal schien ihre Bedürfnisse geradezu vorauszuahnen. Während ihres gesamten Aufenthalts musste sie den Fahrstuhlknopf nicht einmal selbst drücken. Am ersten Tag hatte sie um 16 Uhr Eiswürfel bestellt. Auch am zweiten, dritten und vierten Tag wurden ihr um Punkt 16 Uhr Eiswürfel geliefert. Und sämtliche Hotelangestellten kannten sie mit Namen.
Der einzige Nachteil des Hotels war die Lage außerhalb des Stadtkerns. Wenn man in Bangkok irgendwo hinwollte, musste man sich mit dem allgegenwärtigen Verkehrschaos herumschlagen. Somit war das Hotel ungeeignet, wenn man viel in der Stadt zu tun hatte. Im Hongkonger Mandarin hatte man dieses Problem nicht. Nachdem Ava kurz geduscht und ihr Businessoutfit angezogen hatte, verließ sie das Hotel und begab sich zur Star Ferry, was zu Fuß knapp zehn Minuten dauerte. Fünf Minuten später überquerte sie den Victoria Harbour, um sich mit Henry Cheng in Kowloon zu treffen.
Es war ein schöner Tag in Hongkong, nicht zu warm, leicht bedeckt und schwach windig. Sie suchte sich einen Sitzplatz am Heck der Fähre, genoss die Sonne und die Aussicht auf die Skyline. Sie war einzigartig auf der Welt – eine Wand aus Wolkenkratzern, die den Hafen überragte wie eine mittelalterliche Festung: die Hongkong and Shanghai Bank, das Central Plaza, zwei internationale Finanzzentren, das Hopewell Centre, der von I. M. Pei entworfene Sitz der Bank of China: mehr als vierzig Gebäude mit über fünfundsechzig Stockwerken. Damit konnte sich New York nicht einmal ansatzweise messen.
Die Fähre legte an der Kowloon-Seite in Timshashui an. Ava erwog, ein Taxi zu nehmen, aber da sie früh dran war, ging sie zu Fuß. Um fünf vor elf erreichte sie Henry Chengs Firmengebäude.
Kowloon ist nicht so ultramodern wie Hong Kong Island. Das
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