Die Weisheit des Feuers
war Morzan grauenerregend. Soweit ich mich erinnere, haben wir eine Menge Zeit damit verbracht, vor ihm wegzulaufen - das heißt, vor ihm und seinem Drachen. Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als von einem wütenden Drachen gejagt zu werden.«
»Wie sah er denn aus?«
»Du scheinst dich ja sehr für ihn zu interessieren.«
»Ich bin eben neugierig«, sagte Eragon augenzwinkernd. »Er war immerhin der letzte der Abtrünnigen, der sterben musste, und Brom hat ihn niedergestreckt. Und jetzt ist Morzans Sohn mein Todfeind.«
»Na dann wollen wir mal sehen«, sagte Jeod. »Er war groß, hatte breite Schultern, sein Haar war schwarz wie das Federkleid eines Raben und die Augen hatten unterschiedliche Farben. Eins war blau und das andere schwarz. Er trug keinen Bart und es fehlte ihm eine Fingerspitze; welche, hab ich vergessen. Er sah gut aus, auf eine grausame, arrogante Art, und wenn er sprach, war er außerordentlich charismatisch. Seine Rüstung war immer blank poliert, ob Kettenhemd oder Brustpanzer, als hätte er gar keine Angst, von seinen Feinden entdeckt zu werden. Ich nehme an, er hatte auch keine. Wenn er lachte, hörte es sich an, als habe er Schmerzen.«
»Was ist mit seiner Gefährtin, Selena? Hast du sie auch kennengelernt?«
Jeod lachte. »Dann säße ich heute nicht hier. Morzan mag ja ein furchterregender Schwertkämpfer gewesen sein und ein gefährlicher Magier und ein mordlüsterner Verräter. Aber nicht mal er hat so viel Angst und Schrecken verbreitet wie diese Frau. Morzan hat sie nur für Missionen eingesetzt, die so widerwärtig, schwierig oder geheim waren, dass sich niemand anderes darauf eingelassen hätte. Sie war seine Schwarze Hand, und wo sie auftauchte, drohten Tod, Folter, Verrat und jedes andere erdenkliche Grauen.« Eragon wurde ganz elend, als er diese Beschreibung seiner Mutter hörte. »Sie war äußerst skrupellos, ohne jedes Mitgefühl. Man erzählt sich, dass Morzan Selena, als sie in seine Dienste treten wollte, auf die Probe stellte. Er brachte ihr das Wort für
heilen
in der alten Sprache bei - denn sie konnte nicht nur kämpfen, sondern war auch eine Zauberin - und ließ sie dann gegen zwölf seiner besten Schwertkämpfer antreten.«
»Und wie hat sie die besiegt?«
»Sie hat sie von ihrer Angst und ihrem Hass und allem anderen geheilt, was einen Mann zum Töten treibt. Und während sie dastanden wie eine Schafherde und sich idiotisch angrinsten, ging sie hin und schnitt ihnen die Kehlen durch. - Ist alles in Ordnung, Eragon? Du bist ja kreidebleich.«
»Es geht mir gut. Woran erinnerst du dich noch?«
Jeod klopfte gegen seinen Becher. »Die liebe kleine, besorgte Selena. Sie war ein Rätsel. Bis ein paar Monate vor seinem Tod kannte niemand außer Morzan ihren Namen. Für die Allgemeinheit war und bleibt sie die Schwarze Hand. Die Schwarze Hand, die wir jetzt haben - der Haufen von Spionen, Meuchelmördern und Hexern, die seine Gaunereien ausführen -, ist Galbatorix’ Versuch, sich eine Waffe zu schaffen, die so effektiv ist, wie Selena es für Morzan war. Auch unter den Varden war nur eine Handvoll Leute mit ihrem Namen vertraut und die meisten von ihnen vermodern längst in ihren Gräbern. Ich erinnere mich, dass es Brom war, der ihre wahre Identität aufdeckte. Bevor ich mit der Nachricht über den Geheimgang ins Schloss Ilirea zu den Varden ging - Ilirea, das die Elfen vor Jahrtausenden erbaut hatten und das Galbatorix zur schwarzen Zitadelle erweiterte, die heute über Urû’baen thront. Bevor ich also zu ihnen ging, hatte Brom lange Zeit damit verbracht, Morzans Landsitz auszuspionieren, in der Hoffnung, auf eine bislang unbekannte Schwachstelle zu stoßen... Ich glaube, er verschaffte sich sogar Zutritt zu Morzans Burg, indem er sich als Dienstbote verkleidete. Und so fand er dann auch heraus, was er über Selena wusste. Trotzdem erfuhren wir nie, warum sie so an Morzan hing. Vielleicht hat sie ihn ja wirklich geliebt. Auf jeden Fall war sie ihm immer treu ergeben, bis in den Tod. Bald nachdem Brom Morzan getötet hatte, erreichte die Varden die Kunde, dass der Kummer sie dahingerafft habe. Das ist, als hätte ein abgerichteter Falke so an seinem Herrn gehangen, dass er ohne ihn nicht leben konnte.«
Ganz so treu ergeben war sie ihm ja wohl doch nicht,
dachte Eragon.
In meinem Fall hat sie ihm jedenfalls getrotzt, auch wenn es sie das Leben gekostet hat. Wenn sie Murtagh nur auch hätte retten können.
Eragon beschloss zu glauben, dass Selena von
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