Die Weiße Burg
Tel'aran'rhiod ein ganz normaler Vorfall, wo nichts so blieb, wie es war, falls es nicht die Widerspiegelung eines festen Bestandteils der wachen Welt war. »Andaya Forae wurde für die Grauen erhoben, Rina Hafden für die Grünen und Juilaine Madome für die Braunen. Keine von ihnen trägt die Stola länger als höchstens siebzig Jahre. Elaida hat das gleiche Problem wie wir, Mutter.«
»Ich verstehe«, sagte Egwene langsam. Sie ertappte sich dabei, dass sie sich die Schläfe massierte. Hinter ihren Augen pochte es weiter. Es würde schlimmer werden. Das wurde es immer. Gegen Abend würde sie es bereuen, Halima weggeschickt zu haben. Sie nahm entschlossen die Hand herunter, schob die Ledermappe vor ihr ein wenig nach links und dann wieder zurück. »Was ist mit dem Rest? Sie mussten sechs Sitzende ersetzen.«
»Ferane Neheran wurde für die Weißen erhoben«, gab Siuan zu, »und Susana Dragand für die Gelben. Beide waren bereits Mitglieder des Saals. Es war eine unvollständige Liste, und ich konnte nicht alles lesen.« Sie reckte stur das Kinn vor. »Eine oder zwei, die vor ihrer Zeit erhoben werden, das wäre schon ungewöhnlich genug - so etwas kommt vor, wenn auch nicht oft -, aber hier sind es elf, vielleicht sogar zwölf, aber elf auf jeden Fall, wenn man uns und die Burg mitrechnet. An so große Zufälle glaube ich nicht. Wenn die Fischhändler alle zum selben Preis verkaufen, dann kann man darauf wetten, dass sie alle am Vorabend in derselben Kneipe getrunken haben.«
»Ihr müsst mich nicht davon überzeugen, Siuan.« Egwene lehnte sich seufzend zurück und griff mechanisch nach dem Stuhlbein, das immer zusammenklappen wollte, wenn sie das tat. Offensichtlich geschahen hier seltsame Dinge, aber was hatte das zu bedeuten? Und wer konnte die Wahl der Sitzenden in jeder Ajah beeinflussen? Jeder Ajah außer der Blauen; sie hatten eine neue Sitzende erwählt, aber Moria war schon über hundert Jahre Aes Sedai. Und vielleicht waren die Roten auch nicht davon betroffen; niemand wusste, welche Veränderungen es bei der Roten Ajah gegeben hatte, wenn überhaupt. Möglicherweise steckten die Schwarzen dahinter, aber was konnten sie gewinnen, falls diese jungen Sitzenden nicht alle Schwarze waren? Das erschien unmöglich: hätten die Schwarzen Ajah über so viel Einfluss verfügt, wäre der Saal schon vor langer Zeit nur mit Schattenfreunden besetzt gewesen. Aber wenn es da ein Muster gab und es kein Zufall war, dann musste jemand dahinterstecken. Allein der Gedanke an die Möglichkeiten und die Unmöglichkeiten ließ den dumpfen Schmerz hinter ihren Augen stechender werden.
»Falls sich das doch als Zufall herausstellt, Siuan, dann werdet Ihr es bedauern, jemals geglaubt zu haben, hier ein Rätsel zu haben.« Sie zwang sich bei den Worten zu einem Lächeln, um ihnen die Spitze zu nehmen. Eine Amyrlin musste ihre Worte vorsichtig wählen. »Jetzt, da Ihr mich überzeugt habt, dass da ein Rätsel ist, will ich, dass Ihr es löst. Wer ist verantwortlich, und was wollen sie? Bis wir das nicht wissen, wissen wir gar nichts.«
»Mehr wollt Ihr nicht?«, fragte Siuan trocken. »Vor dem Mittagessen, oder reicht es auch danach?«
»Danach wird wohl reichen«, fauchte Egwene und holte tief Luft, als sie den verlegenen Gesichtsausdruck der anderen Frau sah. Es war sinnlos, ihre Kopfschmerzen an Siuan auszulassen. Die Worte einer Amyrlin hatten Macht und manchmal auch Konsequenzen; das durfte sie nicht vergessen. »Es wäre schön, wenn Ihr Euch so bald wie möglich darum kümmern könntet«, sagte sie in sanfterem Tonfall.
»Ich weiß, dass Ihr so schnell machen werdet, wie Ihr könnt.«
Zerknirscht oder nicht, Siuan schien zu verstehen, dass an Egwenes Ausbruch nicht nur ihr Sarkasmus schuld war. Trotz ihres jugendlichen Erscheinungsbildes hatte sie jahrelange Übung darin, in Gesichtern zu lesen. »Soll ich Halima holen?«, fragte sie und machte Anstalten aufzustehen. Die fehlende Schärfe in Verbindung mit dem Namen der Frau war ein Zeichen ihrer Sorge. »Es würde keine Minute dauern.«
»Wenn ich jedem Schmerz nachgebe, komme ich nie voran«, sagte Egwene und öffnete die Mappe. »Nun, was habt Ihr heute für mich?« Sie ließ die Hände aber auf den Papieren liegen, um sich nicht die Stirn zu reiben.
Eine von Siuans morgendlichen Aufgaben bestand darin, das zu sammeln, was die Ajahs von ihren Netzwerken aus Augen-und-Ohren zu teilen bereit waren, zusammen mit dem, was einzelne Schwestern ihrer Ajah mitgeteilt
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