Die Weiße Burg
Lächeln. Sie hatte kein Recht, über Siuan zu urteilen. Auch sie war verliebt, aber sie wusste weder, wo Gawyn war, noch was sie hätte tun sollen, falls sie es erfuhr. Er hatte seine Pflichten Andor gegenüber, und sie der Burg. Und der einzige Weg, diesen Abgrund zu überbrücken, sich mit ihm zu verbinden, konnte zu seinem Tod führen. Besser, ihn gehen zu lassen, ihn gänzlich zu vergessen. Das war so leicht, wie ihren Namen zu vergessen. Und sie würde mit ihm den Behüterbund eingehen. Das wusste sie. Natürlich konnte sie sich nicht mit dem Mann verbinden, ohne zu wissen, wo er war, ohne ihn in den Händen zu halten, also schloss sich der Kreis. Männer waren... eine Plage!
Sie hielt inne, um die Finger gegen die Schläfen zu drücken - das minderte den Schmerz nicht einmal annähernd -, und verbannte Gawyn aus ihren Gedanken. Soweit das möglich war. Vielleicht war das ein Vorgeschmack darauf, wie es sein würde, einen Behüter zu haben; es war immer etwas von Gawyn in ihrem Hinterkopf. Und es drängte sich immer zu den unpassendsten Zeiten in ihr Bewusstsein. Sie konzentrierte sich auf ihre Arbeit und nahm das nächste Blatt.
Soweit es Augen-und-Ohren anging, war ein großer Teil der Welt verschwunden. Aus den von den Seanchanern besetzten Ländern kamen wenig Neuigkeiten, und die bestanden entweder aus blumigen Beschreibungen der seanchanischen Tiere, die als Beweise dienen sollten, dass sie sich Schattengezücht hielten oder aus furchtbaren Geschichten von Frauen, die getestet wurden, ob sie als Damane an die Leine gelegt werden sollten, und deprimierenden Geschichten über... Akzeptanz. Wie es den Anschein hatte, waren die Seanchaner keine schlimmeren Herrscher als andere und besser als manche - solange man keine Frau war, die die Macht lenken konnte -, und zu viele Menschen schienen jeden Gedanken an Widerstand aufgegeben zu haben, sobald sich herausgestellt hatte, dass die Seanchaner sie ihr gewohntes Leben führen lassen würden. Arad Doman war fast genauso schlimm und produzierte nichts als Gerüchte, was die Schwestern, die die Berichte verfassten, auch zugaben, aber sie schickten sie trotzdem, um zu zeigen, in welchem Zustand sich das Land befand. König Alsalam war tot. Nein, er hatte angefangen, die Macht zu lenken und war wahnsinnig geworden. Rodel Ituralde, der Große Hauptmann, war auch tot, oder er hatte den Thron usurpiert oder führte ein Invasionsheer nach Saldaea. Sämtliche Mitglieder des Rats der Kaufleute waren ebenfalls tot oder aus dem Land geflohen oder hatten einen Bürgerkrieg um den Thronfolger angefangen. Davon konnte alles stimmen. Oder auch nichts. Die Ajahs waren daran gewöhnt, alles zu sehen, aber jetzt war ein Drittel der Welt in dichten Nebel gehüllt, in dem sich nur winzige Lücken zeigten. Und falls es klarere Einblicke gab, hatte sich keine Ajah dazu herabgelassen, diese Informationen weiterzugeben.
Ein weiteres Problem bestand darin, dass jede Ajah andere Dinge für wichtig hielt und so gut wie alles andere ignorierte. Beispielsweise waren die Grünen besonders über die Geschichten von Heeren der Grenzländer in der Nähe von Neu-Braem besorgt, Hunderte von Meilen von der Großen Fäulnis entfernt, die sie eigentlich bewachen sollten. Ihr Bericht drehte sich nur um die Grenzländer, so als müsste man etwas unternehmen und zwar sofort. Nicht, dass sie Vorschläge unterbreitet oder auch nur angedeutet hätten, aber die hastige, enge Schrift, die sich spinnenhaft und drängend über die Seiten zog, verriet Ungeduld.
Egwene kannte die Wahrheit über Elaynes Situation, aber seit Siuan enthüllt hatte, warum sie nicht loseilten, um die Dinge zu regeln, war sie damit zufrieden, die Grünen im Moment ohnmächtig mit den Zähnen knirschen zu lassen. Laut ihrem Agenten in Neu-Braem wurden die Grenzländer von fünfzig oder hundert Schwestern begleitet, vielleicht waren es sogar zweihundert. Die Zahl der Aes Sedai mochte unsicher sein, und natürlich war sie weit übertrieben, aber ihre Anwesenheit war eine Tatsache, die den Grünen bekannt sein musste, auch wenn sie sie in den Berichten an Egwene nie erwähnten. Keine Ajah hatte diese Schwestern in ihren Berichten erwähnt. Am Ende machte es aber kaum einen Unterschied, ob es zweihundert Schwestern oder zwei waren. Niemand konnte mit Gewissheit sagen, um wen es sich bei diesen Schwestern handelte oder warum sie dort waren, aber jedes Nachhaken wäre mit Sicherheit als Einmischung aufgefasst worden. Es erschien
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