Die Weiße Rose
des Solon Gesetzgebung. Sie las: »Alles darf dem Besten des Staats zum Opfer gebracht werden, nur dasjenige nicht, dem der Staat selbst nur als ein Mittel dient. Der Staat selbst ist niemals Zweck, er ist nur wichtig als eine Bedingung, unter welcher der Zweck der Menschheit erfüllt werden kann, und dieser Zweck der Menschheit ist kein anderer, als Ausbildung aller Kräfte des Menschen, Fortschreitung. Hindert eine Staatsverfassung, daß alle Kräfte, die im Menschen liegen, sich entwickeln; hindert sie die Fortschreitung des Geistes, so ist sie verwerflich und schädlich, sie mag übrigens noch so durchdacht und in ihrer Art noch so vollkommen sein …« Wo hatte sie diese Worte gelesen, war es nicht erst heute gewesen? – Das Flugblatt! Dort standen diese Sätze. Einen langen, qualvollen Augenblick war es Sophie, als sei sie nimmer sie selbst. Eine erstickende Angst ergriff sie, und ein einziger großer Vorwurf gegen Hans erhob sich in ihr. Warum gerade er? Dachte er nicht an den Vater, an die ohnehin schon gefährdeten Lieben daheim? Warum überließ er das nicht politischen Menschen, Leuten mit Erfahrung und Routine? Warum erhielt er sein Leben nicht für eine große Aufgabe, er, mit seinen ungewöhnlichen Begabungen? Das Schrecklichste aber war dies: nun war er vogelfrei. Er hatte sich aus der letzten Zone der Sicherheit herausbegeben. Nun stand er im Bereich des Wagnisses, am Rande des Daseins, in jenem ungeheuren Bezirk, in dem schrittweise neues Land für die Menschen erobert werden muß, erkämpft, errungen, erlitten.
Sophie versuchte ihrer Angst Herr zu werden. Sie versuchte, nicht mehr an das Flugblatt zu denken, sie dachte nicht mehr an Widerstand. Sie dachte an ihren Bruder, den sie lieb hatte. Er trieb in einem Meer der Bedrohung. Durfte sie ihn jetzt allein lassen? Konnte sie hier dasitzen und zusehen, wie Hans ins Verderben lief? Mußte sie nicht gerade jetzt ihm beistehen?
Mein Gott, ließe sich nicht alles noch einmal abstoppen? Konnte sie ihn nicht ans sichere Land zurückziehen und ihn den Eltern, sich selbst, der Welt und dem Leben erhalten? Aber sie wußte genau: er hatte die Grenzen, hinter denen die Menschen sich wohnlich und sicher einrichten, übersprungen. Für ihn gab es kein Zurück mehr.
Endlich kam Hans.
»Weißt du, woher die Flugblätter kommen?« fragte Sophie.
»Man soll heute manches nicht wissen, um niemanden in Gefahr zu bringen.«
»Aber Hans. Allein schafft man so etwas nicht. Daß heute nur noch einer von einer solchen Sache wissen darf, zeigt doch, wie unheimlich diese Macht ist, die es fertigbringt, die engsten menschlichen Beziehungen zu zerfressen und uns zu isolieren. Allein kommst du gegen sie nicht an.«
In der darauffolgenden Zeit erschienen in kurzen Abständen drei weitere Blätter der Weißen Rose. Sie tauchten auch außerhalb der Universität auf, in ganz München flatterten sie da und dort in die Briefkästen. Und auch in anderen süddeutschen Städten wurden sie verbreitet.
Dann sah man nichts mehr von ihnen.
In der Studentenkompanie ging das Gerücht, daß die Medizinstudenten während der Semesterferien zu einem Fronteinsatz nach Rußland abkommandiert werden sollten. Über Nacht, kurz vor Abschluß des Semesters, wurde dieses Gerücht durch einen Befehl Wirklichkeit. Von einem Tag auf den andern mußten sie sich zum Abtransport nach Rußland bereit machen.
Wieder hatten sich die Freunde versammelt; es war der letzte Abend vor dem Transport. Sie wollten Abschied feiern. Professor Huber war auch gekommen, und noch einige weitere zuverlässige Studenten hatte man eingeladen. Obwohl es schon Wochen zurücklag, standen alle noch unter dem Eindruck der Flugblätter. Inzwischen hatten sich auch die andern in ähnlich behutsamer Weise wie Sophie neben Hans gestellt und waren zu Mitwissenden und zu Mittragenden der großen Verantwortung geworden. An diesem letzten Abend wollten sie noch einmal alles gründlich überblicken und besprechen, und am Ende einer ernsten Aussprache faßten sie einen Entschluß: wenn sie das Glück haben sollten, aus Rußland zurückzukehren, so sollte die Aktion der Weißen Rose sich ganz entfalten und der kühne Beginn zu sorgsam durchdachtem, hartem Widerstand werden. Man war sich darüber einig, daß dann der Kreis erweitert werden mußte. Jeder sollte mit größter Sorgfalt prüfen, wer von seinen Freunden und Bekannten zuverlässig genug wäre, um eingeweiht zu werden. Jedem sollte eine kleine, wichtige Aufgabe
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