Die Weiße Rose
übertragen werden. Die Fäden des Ganzen sollten in der Hand von Hans zusammenlaufen.
»Unsere Aufgabe wird es sein«, sagte Professor Huber, »die Wahrheit so deutlich und hörbar als möglich hinauszurufen in die deutsche Nacht. Wir müssen versuchen, den Funken des Widerstandes, der in Millionen ehrlicher deutscher Herzen glimmt, anzufachen, damit er hell und mutig lodert. Die einzelnen, die vereinsamt und isoliert gegen Hitler stehen, müssen spüren, daß eine große Schar Gleichgesinnter mit ihnen ist. Damit wird ihnen Mut und Ausdauer gegeben. Darüber hinaus müssen wir versuchen, diejenigen Deutschen, die sich noch nicht klar geworden sind über die dunklen Absichten unseres Regimes, aufzuklären und auch in ihnen den Entschluß zu Widerstand und aufrechter Abwehr zu wecken. Vielleicht gelingt es in letzter Stunde, die Tyrannis abzuschütteln und den wunderbaren Augenblick zu nützen, um gemeinsam mit den anderen Völkern Europas eine neue, menschlichere Welt aufzubauen.«
»Und wenn es nicht gelingt?« erhob sich eine Frage. »Ich zweifle sehr, daß es möglich sein wird, gegen diese eisernen Wände von Angst und Schrecken anzurennen, die jeden Willen zur Erhebung schon im Keim ersticken.«
»Dann müssen wir es trotzdem wagen«, entgegnete Christl leidenschaftlich. »Dann haben wir durch unsere Haltung und Hingabe zu zeigen, daß es noch nicht aus ist mit der Freiheit des Menschen. Einmal muß das Menschliche hoch emporgehalten werden, dann wird es eines Tages wieder zum Durchbruch kommen. Wir müssen dieses Nein riskieren gegen eine Macht, die sich anmaßend über das Innerste und Eigenste des Menschen stellt und die Widerstrebenden ausrotten will. Wir müssen es tun um des Lebens willen – diese Verantwortung kann uns niemand abnehmen. Der Nationalsozialismus ist der Name für eine böse, geistige Krankheit, die unser Volk befallen hat. Wir dürfen nicht zusehen und schweigen, wenn es langsam zerrüttet wird.«
Lange saßen sie in dieser Nacht beisammen. In solchen Gesprächen, im Für und Wider der Meinungen und Bedenken erwarben sie sich die klare, feste Schau, die notwendig war, um innerlich zu bestehen. Denn es kostete keine geringe Kraft, gegen den Strom zu schwimmen. Schwieriger aber und bitterer noch war es, dem eigenen Volk die militärische Niederlage wünschen zu müssen; sie schien die einzige Möglichkeit zu sein, es von dem Parasiten zu befreien, der sein innerstes Mark aussaugte.
Dann waren die Studenten fortgezogen. München war für Sophie leer und fremd geworden. Mit Beginn der Semesterferien fuhr sie nach Hause.
Sophie war noch nicht lange daheim, da erhielt der Vater mit der Morgenpost eine Anklageschrift vom Sondergericht. Eine Verhandlung wurde inszeniert, bei der er zu vier Monaten Gefängnis verurteilt wurde.
Der Vater im Gefängnis und die Brüder und Freunde alle an der Front in Rußland, unerreichbar fern.
Es war sehr still geworden daheim. Aber schön war es trotzdem, und Sophie genoß das Zuhause. Wie ein Schiff war es, das zäh und stetig auf dem tiefen, unheimlichen Meer dieser Zeit trieb. Wie ein Schiff – aber das bebte und zitterte manchmal – wie ein Boot auf dunklen, unberechenbaren Wogen.
Bei einem Gewitter war sie mit dem kleinen Jungen, der im Haus wohnte und den Sophie sehr liebte, auf die Plattform des Daches gestiegen, um rasch noch die Wäsche vor dem anziehenden Gewitterregen zu retten. Bei einem gewaltigen Donnerschlag blickte das Kind angstvoll zu ihr auf. Da zeigte sie ihm den Blitzableiter. Nachdem sie ihm dessen Funktion erklärt hatte, fragte er: »Aber weiß der liebe Gott denn auch etwas von dem Blitzableiter?«
»Er weiß alle Blitzableiter und noch viel mehr, sonst stünde sicherlich kein Steinchen mehr auf dem andern in dieser Welt. Du brauchst keine Angst zu haben.«
Ab und zu erhielt Mutter Besuch von ihren früheren Freundinnen, den Diakonissenschwestern aus Schwäbisch-Hall. Dort war eine große Heilanstalt für geisteskranke Kinder.
Eines Tages kam wieder eine der Schwestern; sie war traurig und verzagt, und wir wußten nicht, wie wir ihr helfen konnten. Schließlich erzählte sie den Grund ihres Kummers. Ihre Schützlinge wurden seit einiger Zeit truppweise von Lastwagen der SS abgeholt und vergast. Nachdem die ersten Trüppchen von ihrer geheimnisvollen Fahrt nicht wiederkehrten, ging eine merkwürdige Unruhe durch die Kinder in der Anstalt. »Wo fahren die Wagen hin, Tante?« – »Sie fahren in den Himmel«,
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