Die Welfenkaiserin
dass sie als Geisel Kindheit und Jugend am Kaiserhof verbracht habe, und staunte über sich selbst, dass sie diesem fremden Mann verriet, wie sehr ihr das anregende Leben im Palatium fehlte. Beinahe hätte sie ihm auch noch verraten, dass sie sich vor Kurzem heimlich hinter ihm hineingeschlichen hatte. Er war alles andere als ein schöner Mann, aber die fast unverschämte Selbstsicherheit, die er ausstrahlte, half ihr, die eigene zu behalten.
»Dann willst du doch sicher sehen, was sich hier verändert hat«, meinte er. Ohne auf ihre Antwort zu warten, ergriff er Judith am Arm und führte sie aus dem Saal. Sie ließ es geschehen, fühlte sich nach all den Wochen des Eingepferchtseins regelrecht beschwingt, genoss den leichten Druck des gleich großen, dicht neben ihr herschreitenden Mannes und wünschte sich den Weg länger, als er war. Sie begriff nur ansatzweise, was sie auf der Brautschau ausgelöst hatte, und wollte darüber nicht nachdenken.
Kaiser Ludwig saß nicht auf seinem Thron im Obergeschoss, sondern hatte sich vor dem Hauptaltar der Marienkirche auf die Knie geworfen. Tränen strömten ihm über das Gesicht, während er inbrünstig betete und Gott um Führung anrief. Die beiden Erzbischöfe standen in respektvoller Entfernung hinter ihm. Diesmal konnten sie nicht einmal erraten, was in dem Kaiser vorging, den sie bisher immer gründlich hatten berechnen und beeinflussen können.
Ludwig selbst hätte es ihnen kaum sagen können. Er war zutiefst verwirrt und erschüttert. Verwirrt, weil er vor der Brautschau beschlossen hatte, dem Wunsch seiner Berater nachzukommen und Irmingard von Tours zu erwählen, um sich mit ihrem Vater und Onkel kluger Berater zu versichern, die ihm nie in den Rücken fallen würden. Erschüttert, weil das völlig Unerwartete geschehen war.
Wie ein Blitz hatte es ihn getroffen, als diese kurzhaarige, aber dennoch atemberaubend schöne Welfentochter vor ihm stand. Ein Blitz, der von Donnergrollen aus der Vergangenheit begleitet wurde, als ihm plötzlich aufging, dass er diesem Mädchen schon früher begegnet war und dass diese Begegnung irgendwie mit jener elenden Sachsendirne Gerswind zusammenhing, an die er nie wieder hatte denken wollen, jener Frau, deren Zauberkräfte seinen Vater betört hatten. Und die auch ihn bei ihrer letzten Begegnung verblendet haben musste.
Er begann auf dem Steinboden der Kirche zu zittern, als vergessen gehoffte Bilder in ihm aufstiegen. Wieder sah er sich, wie er mit dem bloßen Schwert in Gerswinds Gemach gestürzt war, sie den Planetentisch umgestürzt und sich dahinter verborgen hatte. Wie er sein Schwert durch das Silber dieses unschätzbar kostbaren Tisches getrieben und sie sich doch mit einem Kind auf dem Arm unversehrt aufgerichtet hatte. Beim Gedanken an dieses Ereignis wurde ihm wieder so schwindlig wie damals, als Gerswind vor seinen Augen verschwommen und zu einer Vision geworden war. Für dieses Geschehen hatte er später verzweifelt nach Erklärungen gesucht. Immer wieder hatte er sich gesagt, dass er überaus erschöpft gewesen sein musste. Der lange Ritt nach seines Vaters Tod; die Aufregungen, als er erfuhr, dass Hedoin, der Lebensgefährte seiner Schwester, einen seiner treusten Gefährten niedergestochen hatte, ehe er selbst den Tod fand; Hruodhaids Freitod; das Durcheinander am Hof und all die Menschen, die etwas von ihm wollten, die ihn feindlich anstarrten oder ihm kriecherisch huldigten; die furchtbare Verantwortung für ein Reich, dessen Ausmaße er nicht übersehen konnte, für Menschen, Völker und Stämme, die er nicht kannte – all dies musste ihn wohl mit einem Schlag überwältigt haben. Nur so konnte er sich erklären, dass er in jenem Raum, in dem ihn der Vater so oft gemaßregelt hatte, in der Frau mit dem schlichten blauen Gewand und dem Knaben auf dem Arm plötzlich die Mutter Gottes zu erkennen glaubte. Die ihn verfluchte, weil er sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht hätte. Er entsann sich, wie der Abglanz des silbernen Planetentischs das unwirklich erscheinende Paar umschimmert hatte, wie er vor diesen Schemen auf die Knie gefallen war und vor Furcht und Verzweiflung zu weinen begonnen hatte. Wie er die Frau angefleht hatte, doch bei ihm zu bleiben, ihn nicht zu richten. Wie sie ihm vor ihrem Verschwinden sein Schicksal entgegengeschleudert hatte: »Es ist dein unausweichliches Los, bis in alle Ewigkeit an deinem Vater gemessen zu werden!«
Es war eines der aufwühlendsten Erlebnisse seines Lebens
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