Die Welfenkaiserin
gewesen, und doch hatte er die Erinnerung daran jahrelang erfolgreich verdrängt. Er verbrachte damals noch mehr Stunden als zuvor im Gebet, versuchte die Schuld an seiner Schwester gutzumachen und ließ ihren Sohn Ruadbern wie einen Prinzen an seinem Hof erziehen. Vom materiellen Erbe seines Vaters ließ er seinen Schwestern nichts zukommen, sondern beschenkte damit Witwen, Waisen, Klöster und Würdenträger. Das meiste schickte er zu Papst Leo nach Rom. Für sich selbst behielt er nur den dreiteiligen unschätzbar kostbaren Silbertisch, auf dem die Karte des gesamten Erdkreises, des Sternenhimmels und der Planetenbahn in herausgehobenen Zirkeln dargestellt war und den er mit dem Schwert durchstoßen hatte. Er ließ ihn aber in eine hintere Ecke der kaiserlichen Schatzkammer verbannen, denn er wollte nicht ständig an die schmachvolle Stunde erinnert werden, da er vor der Sachsendirne auf die Knie gefallen war und sie zum Bleiben beschworen hatte.
Und jetzt hatte ihn die Vergangenheit so unvermittelt eingeholt!
Als sich die Tochter des Grafen Welf, jenes Mädchen mit den kurz geschorenen Haaren, vor ihm verneigt hatte, war ihm einen Augenblick gewesen, als hätte sich vor sie die blau gekleidete Frau mit dem Kind auf dem Arm geschoben. Eine Frau mit langem weißblonden Haar. Voller Entsetzen hatte er die Augen geschlossen. Als er sie wieder aufschlug, war er höchst erleichtert gewesen, in die klaren saphirblauen Augen der kurzhaarigen Schönheit zu blicken. Den knappen Wortwechsel mit ihr hatte er als äußerst heilsam empfunden, sich keinen Augenblick an ihren Widerfragen gestört, ganz im Gegenteil. Die unbefangene Frische, die von diesem Mädchen ausging, und ihre fabelhafte Kühnheit hatten das Trugbild gänzlich zum Verschwinden gebracht. Und auch die Schwere vergessen lassen, die zu Beginn der Brautschau beim Gedanken an noch eine Ehe mit noch einer umtriebigen Irmingard auf ihm gelastet hatte. Wäre die Äbtissin nicht umgefallen, hätte er dieses Gespräch mit Vergnügen weitergeführt. Doch dann lag plötzlich die Braut Jesu vor ihm auf dem Boden! Was für eine Botschaft wollte ihm Gott mit der blitzartigen Erscheinung und der Ohnmacht der Äbtissin senden?
Herr, flehte er jetzt und hob sein tränennasses Gesicht zum Kreuz, Herr, lass mich deine Zeichen gewissenhaft lesen und die rechte Entscheidung treffen! Mein Herz spricht für diese Frau, denn sie hat es gar freudig bewegt!
Als er bedachte, dass die freudige Bewegung nicht nur sein Herz getroffen hatte, erhob er sich rasch. Solche Gedanken durften ihn nicht an geweihten Stätten überfallen. Die beiden Erzbischöfe staunten nicht schlecht, mit welcher Eile ihr Kaiser dem Ausgang zustrebte.
»Lasset die Welfentochter zu mir rufen«, beschied er seinen Begleitern, als er den Weg zu seinen privaten Gemächern einschlug. Er musste unbedingt herausfinden, woher er das Mädchen kannte und in welchem Verhältnis sie zu jener Frau stand, die er zutiefst hasste und verachtete. Nichts schien ihm jetzt dringlicher, als sich näher mit diesem Kurzhaarwesen zu beschäftigen, das so viele widersprüchliche Gefühle in ihm ausgelöst hatte. Nichts war jetzt erstrebenswerter, als die Nähe der Welfentochter zu suchen, ihre klangvolle Stimme wieder zu vernehmen und, vor allem, diesen schmalen Körper an seinem zu spüren. Er hatte lange nicht mehr bei einer Frau gelegen, das Bedürfnis dazu für überwunden geglaubt. Doch jetzt hatte ihn ein Hunger überfallen, ähnlich dem seiner Jugend, der ihn oft zu unbedachten Handlungen verführt hatte.
Die beiden Gottesdiener sahen einander betroffen an. Zögerlich ergriff Agobard als Erster das Wort: »Vielleicht empfiehlt sich zunächst eine Beratung in kleinem Kreis.«
Ebbo, dessen winzige Augen tief in den Wülsten lagen, spürte, wie der Schweiß auf seiner buckligen Stirn zu perlen begann. Es durfte nicht angehen, dass sich der Kaiser in seinen unberechenbaren Stimmungsschwankungen nicht an den zuvor gefassten Beschluss hielt. Es gelang Ebbo zwar meist, Ludwigs Seelenlage zu ergründen und seine Handlungen in die gewünschte Richtung zu lenken, hier aber schien eine bestimmte Fleischeslust im Spiel zu sein, und da kannte er sich nicht sonderlich gut aus.
»Du sprichst gewiss von der Tochter des Grafen von Tours«, bot er an. »Nicht von diesem zerrupften unverschämten Geschöpf, dessen Namen du soeben nanntest.« Er rümpfte die von roten Äderchen durchzogene breite Nase. »Würdest du dessen Maßregelung
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