Die Welfenkaiserin
er glaubte sehr wohl zu begreifen, dass seine unberechenbare Schwester den Kaiser verärgert und den Aufruhr verursacht hatte. Fassungslos starrte er ihren Kopf an. Wie konnte Judith zu einer solch verabscheuungswürdigen Maßnahme greifen! Nur, um nicht heiraten zu müssen! Welch ein Elend! Die lange mühevolle Reise war umsonst gewesen. Ein Mädchen, das sich den Zorn des Kaisers zugezogen hatte, das sich um seinen schönsten Schmuck gebracht und so dreist in den Mittelpunkt gestellt hatte, würde er an keinen Edlen mehr verheiraten können. Er setzte gerade an, Judith zurechtzuweisen, als er eine weiche Hand in seiner spürte. »Kannst du mich bitte hier wegbringen?«, fragte Adelheid zaghaft. Er warf noch einen wütenden Blick auf seine Schwester und geleitete Adelheid zum Ausgang.
Die Äbtissin setzte sich mühsam auf und öffnete verwirrt die Augen. Diese weiteten sich vor Entsetzen, als sie erkannte, dass ausgerechnet Judith ihr geholfen hatte.
»Teufelin!«, krächzte sie und sah sich Hilfe suchend nach den anderen Mädchen um. Doch die hatten sich mittlerweile im ganzen Saal verteilt, unterhielten sich angeregt mit fremden Männern und nutzten es offenbar weidlich aus, dass für einen solchen Fall keine Verhaltensregeln vorgegeben waren.
Einhard versuchte, sich Autorität zu verschaffen und die Ordnung wiederherzustellen, doch in diesem Augenblick wurde das Portal zur Königshalle aufgestoßen. Mit neugierigen Gesichtern drängten unzählige weitere Menschen hinein, darunter sogar Wachen, Bedienstete und Kinder. Harald Klak, um den sich jetzt niemand mehr kümmerte, blickte entgeistert auf das Durcheinander und fühlte sich an eine Gänseschar erinnert, die ein hungriger Fuchs aufgescheucht hatte. Das Geschnatter der jungen Mädchen, die den Kaiser von der Weltpolitik abhielten, beleidigte seine Ohren. Er hörte, wie den Eindringlingen aufgeregt mitgeteilt wurde, was vorgefallen war. Die Neuankömmlinge berichteten, der Kaiser sei mit geistesabwesendem Blick durch den langen Gang zur Hofkapelle geeilt.
Einhards Frau Emma, die, von einem Knaben begleitet, ebenfalls die Königshalle betreten hatte, warf Judith einen kurzen überraschten Blick zu und kümmerte sich dann sogleich um die Äbtissin. Der Knabe blieb vor der immer noch am Boden knienden Judith stehen und strahlte sie aus gleicher Höhe an. »Bleibst du jetzt endlich wieder hier, Judi?«, fragte er sie. »Wirst du meine Kaiserin?«
»Ruadbern!«, rief sie, zupfte an ihrem Kurzhaar und versetzte: »Wohl kaum. Nicht mit diesem Haar.«
»Du bist sehr hübsch«, versicherte der Junge ernst.
»Da spricht der Kenner«, ertönte eine wohlklingende männliche Stimme. Eine kräftige Hand half ihr, wieder auf die Beine zu kommen. Dann blickte sie in Augen, die sie an zugefrorene Teiche erinnerten.
»Bernhard, Sohn des Grafen von Toulouse«, stellte sich der untersetzte junge Mann vor, dem sie wenige Wochen zuvor von der Pfalzkapelle ins Palatium gefolgt war. »Und wäre der Schädel gänzlich rasiert, würde man die Schönheit seiner Form bewundern.«
Er lächelte. Die beiden Grübchen, die neben seinen Mundwinkeln auftauchten, milderten die winterliche Kälte der Augen und verliehen seinem ansonsten düsteren Gesicht etwas Schalkhaftes. Anders als die meisten Menschen im Saal schien er weder ratlos noch verstört oder gar aufgebracht zu sein. Er wirkte völlig gelassen und leicht belustigt.
»Was geschieht jetzt?«, fragte ihn Judith, ohne sich dem Mann vorzustellen. Schließlich musste er vernommen haben, wer ihr Vater war.
Bernhard zuckte mit den Schultern. »Das Zeremoniell ist gänzlich durcheinandergeraten. Es war nicht vorgesehen, dass der Kaiser flüchtet.«
»Er ist nicht geflüchtet«, mischte sich Ruadbern ein, der immer noch neben Judith stand. »Er ist in die Kirche gegangen und bittet Gott, Judi zur Kaiserin zu machen.«
»Judi«, sagte Bernhard schmunzelnd, gab dem Knaben einen Klaps auf die Schulter und setzte fragend hinzu: »Woher kennt ihr euch?« Judith sah sich um, ehe sie antwortete. Um sie herum wogte eine unbändige, lärmende Menge. Wie war es nur so vielen Leuten gelungen, die Königshalle zu stürmen? Wo kamen die alle her? Sie fühlte sich seltsam unberührt von all dem Getöse, das ihr Auftritt offensichtlich ausgelöst hatte, und kam sich vor, als stünde sie mit einem Verbündeten am Rande eines Durcheinanders, mit dem sie nichts zu schaffen hatte. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Bernhard zu, erklärte kurz,
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