Die Welfenkaiserin
Fass Wein mitgebracht. Er begrüßte die Äbtissin mit ausgesuchter Herzlichkeit und plauderte mit ihr über zahlreiche unwesentliche Dinge. Irgendwann brachte er das Gespräch auf Judith. Beweise für ihre satanischen Verbindungen müsse sie inzwischen sicherlich gesammelt haben, fragte er forschend. Äbtissin Philomenas letzte Zweifel wichen, und sie unterdrückte den Zorn, der in ihr aufstieg.
»Dämonen sind im Dormitorium nicht erschienen«, erklärte sie knapp.
»Erhält sie überhaupt Besuch?«, fragte Graf Hugo hastig.
»Niemand kommt zu ihr«, erwiderte die Äbtissin trocken. Erstmals war sie froh darüber, dass sie den wahren Namen des jungen Mönchs nicht kannte, der sie am Tag nach dem Überfall aufgesucht und gebeten hatte, mit Judith sprechen zu dürfen. Sie hatte ihm den Wunsch mit den Worten abgeschlagen, Kaiser Lothar habe verfügt, Judith dürfe niemanden empfangen.
»Nenn mich also Niemand«, hatte er sie lächelnd aufgefordert und ihr aus seinen weisen dunklen Augen einen Blick geschenkt, der sie mitten ins Herz traf. Weil ihr dies noch nie geschehen war, nickte sie ihm, ohne zu zögern, zu und ließ Judith rufen. Inzwischen war sie von deren Unschuld überzeugt und von ihrem Wirken im Kloster beeindruckt. Und sie wünschte der leidgeprüften Frau eine Freude zu machen. Schließlich schien diese in ihrem weltlichen Leben nur von Feinden umgeben gewesen zu sein. Wer Niemand ist, kann jeder sein, bedachte sie kurz, aber die Menschenkenntnis verriet ihr, dass dieser junge Mönch weder mit bösen Absichten kam, noch vorhatte, die einstige Kaiserin mit Gewalt aus dem Kloster zu befreien.
Im Beisein der Äbtissin sprach er mit Judith, berichtete von ihrem Sohn Karl, dem es in Prüm unter der Obhut des Abtes Markward gut gehe, und von seiner Arbeit an der Hofschule, wo er offensichtlich lehrte. Er war der einzige Mensch, der Judith zum Lachen bringen konnte. Schon deswegen würde es Äbtissin Philomena nicht übers Herz bringen können, ihr die künftigen Besuche des Mönchs Niemand vorzuenthalten.
Für die einstige Kaiserin sprach, dass sie kein einziges böses Wort über die Menschen vorbrachte, die sie verleumdet hatten. »Wenn Gott uns Menschen Vergebung gewährt, dürfen dann wir, die wir nach seinem Bild gemacht wurden, uns anmaßen, andere zu verurteilen?«, hatte sie gesagt. Sie war betroffen, dass ihretwegen viele Menschen bestraft worden waren, zeigte sich aber erleichtert, dass keiner bisher sein Leben hatte lassen müssen. Auch ihren Feinden habe sie verziehen, hatte sie versichert. Wie die Gründerin des Klosters, die Heilige Radegundis, die dreihundert Jahre zuvor gelebt hatte, offenbarte sich Judith ebenfalls als Gegnerin jeglicher Todesstrafe.
Wahrlich eine große Frau, dachte die Äbtissin, und ein Jammer, dass sie diesem Reich nicht weiter vorstehen und ihm ein Vorbild abgeben darf. Das Land könnte wieder zu großer Blüte reifen – wenn nicht solche Leute wie der Graf von Tours die Herzen der Menschen vergiften würden.
Es bereitete ihr eine heimliche Freude, Graf Hugo auf seine Bitte, Judith sprechen zu dürfen, eine Absage zu erteilen.
»Niemand darf sie sehen«, erklärte sie. »Diesen ausdrücklichen Wunsch von Kaiser Lothar hast du mir doch selbst übermittelt.«
»Ich bin nicht Niemand!«, fuhr der Graf auf.
»Eben«, erwiderte die Äbtissin befriedigt. Sie erhob sich, öffnete die Tür, dankte ihm für sein Interesse an der Abtei sowie für den Wein, den er mitgebracht hatte, und wünschte ihm einen gesegneten Tag.
Judith zeigte sich sehr erleichtert, als ihr die Äbtissin am Brunnen von dem Besuch und ihrer Weigerung berichtete. »In der Theorie gestaltet es sich einfach, seine Feinde zu lieben; in der Praxis wäre es mir gerade in diesem Fall nicht nur schwergefallen, sondern wahrscheinlich unmöglich gewesen; verzeih mir Gott!«
»Er wird dich lehren, den Hass zu überwinden, der dein Herz schwächt und dein Gemüt beschwert«, erwiderte die Äbtissin freundlich und überließ Judith wieder ihrer Arbeit.
Diesen Hass will ich gar nicht überwinden, dachte Judith, als sie den Eimer in den Brunnen senkte, er hält mich bei Kräften! Graf Hugo der Schreckliche! Nichts hätte mich davon abgehalten, ihn ins Gesicht zu schlagen, ihm mit aller Kraft ins Gemächt zu treten und ihn mit Schimpfworten zu belegen, die mir erst beim Anblick seines dreckig grinsenden Gesichts eingefallen wären. Und die unsere gute Äbtissin wahrscheinlich mehr entsetzt hätten als all
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