Die Welfenkaiserin
Dormitorium, erinnerte sie sich. Unerhört, dachte sie, für wie dumm hält mich Graf Hugo eigentlich! Welch eine Beleidigung für meinen Verstand! Welch eine Unverschämtheit, meine Abtei für seine Zwecke derart zu entweihen! Meinen Schwestern solch einen Schrecken einzujagen! Sie verstand wenig von politischen Angelegenheiten, aber mit Menschen kannte sie sich aus. Und mit dem Klostergebäude. Sie nahm sich vor, den Gang endlich zumauern zu lassen.
»Wer war der Engel?«, fragte eine andere Nonne.
»Ein unbekannter Mönch«, erwiderte Äbtissin Philomena kurz angebunden. Wenn der junge Mann, der die Einbrecher vertrieben und ihr höflich die Peitsche aus dem Ziegenstall gereicht hatte, sein Wort hielt, würde er sich nach dem Morgengebet bei ihr anmelden. Und sie konnte erfahren, wer er wirklich war.
Sie setzte sich zu Judith auf den Bettrand.
»Bist du unversehrt, mein Kind?«, fragte sie besorgt und bedachte, mit welch unermüdlichem körperlichen, seelischen und geistigen Einsatz Judith in dieser Abtei wirkte. Wenn der Herr der Finsternis ihr einstiges Leben tatsächlich beherrscht haben sollte, dann hatte er sich in ihrem jetzigen längst zurückgezogen.
Prüm und Poitiers, dachte Judith, diese beiden Abteien werde ich bald reich beschenken. Laut sagte sie: »Ich bitte um Vergebung für die Unannehmlichkeit.«
Eine Nonne begann leise zu lachen, eine andere gackerte lauter, eine weitere stimmte meckernd ein, und innerhalb weniger Augenblicke erbebte der Schlafsaal vor Gelächter.
»An Schlaf ist derzeit wohl nicht zu denken«, bemerkte die Äbtissin. »Ich schlage deshalb vor, dass wir uns jetzt den Wein genehmigen, den uns der Graf von Tours in seiner Gutherzigkeit hat zukommen lassen. Auf diesen Schreck bedürfen wir wohl alle der Stärkung.«
Judiths Augen weiteten sich, als ihr die Äbtissin zumurmelte: »Alles, was dieser Mann hinterlässt, sollte so schnell wie möglich vertilgt werden. Glaubst du, dass er dahintersteckt?«
Dankbar, dass sie Äbtissin Philomena offensichtlich nicht mehr zu ihren Gegnern rechnen musste, flüsterte sie zurück: »Es wäre nicht das erste Mal, dass er mir innerhalb von Klostermauern Schaden zufügen wollte.«
Als sie später mit den anderen Nonnen um den Refektoriumstisch saß, überlegte sie, wie gut ihr – bei aller Arbeit – diese Zeit im Kloster doch tat. In den ersten Wochen hatte es noch das ängstliche Misstrauen der Schwestern gegeben. Aber das hatte sich gelegt, als sie Judith näher kennenlernten. Wie liebenswert, fröhlich und ungekünstelt die Frauen waren, mit denen sie tagtäglich zu tun hatte! Hier gab es keinen Neid, keine Verstellung, keinen Machtanspruch und keine Feinde. Zum ersten Mal verstand sie Ludwigs Wunsch, der Welt zu entsagen, ein Leben zu führen, das frei von jeglicher Verantwortung war, wo jeder Tag dem vorangegangenen glich; wo man sich mit dem besten Gewissen, dem Herrn zu dienen und sich mit Schöngeistigem zu befassen, allen weltlichen Sorgen entzog. Die Verlockung, es dabei zu belassen und in dieser beschaulichen Umgebung alt zu werden, wäre groß gewesen, triebe sie nicht der Gedanke an Karl um. Sie wusste ihn bei Abt Markward und Gerswind gut aufgehoben, und das erleichterte ihre Last.
Aber ihr Karl war nicht zum Mönch geboren. Er könnte ein wahrer Kaiser sein, dachte sie, als sie den Becher mit dem roten Wein des Grafen von Tours wieder aufnahm. Mehr als die anderen Söhne Ludwigs. Mehr als Ludwig selbst. Lothar ist zu sprunghaft, Pippin zu leichtgläubig und Ludo zu schwermütig – alles Attribute, die sie von ihrem Vater haben. Karl hingegen ist entschlossen, misstrauisch, dennoch von heiterem Gemüt und will nach den Sternen greifen – wie sein Vater, der Enkel des allerersten Karl, des Karl Martell. Der auf dem Wagen Geborene, der Kerl, hatte Ludwig ein wenig missmutig die Bedeutung erläutert, als sich Judith für diesen Namen ausgesprochen hatte. Der Große, hatte Judith nur gesagt und ihren Mann vieldeutig angesehen. Als der Kahle hatte Lothar ihn bezeichnet. Und jetzt erst fragte sich Judith, ob ihr Stiefsohn schon damals an das Scheren, an eine mögliche Mönchung ihres Sohnes, seines Patenkindes, gedacht hatte.
Heiliger Zorn stieg in ihr auf. Du wirst dich wundern, Lothar, dachte sie, während sie den anderen Nonnen zutrank, du wirst dich wundern, was auf dem Reichstag geschieht!
Nur wenige Tage nach dem Überfall im Dormitorium ritt der Graf von Tours in den Klosterhof ein. Wieder hatte er ein großes
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