Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Der Wille kann nur an den Motiven sichtbar werden, wie das Auge nur am Lichte seine Sehkraft äußert. Das Motiv überhaupt steht vor dem Willen als vielgestaltiger Proteus: es verspricht stets völlige Befriedigung, Löschung des Willensdurstes; ist es aber erreicht, so steht es gleich in anderer Gestalt da und bewegt in dieser aufs Neue den Willen, immer seinem Grade der Heftigkeit und seinem Verhältniß zur Erkenntniß gemäß, die eben durch diese Proben und Exempel als empirischer Charakter offenbar werden.
Der Mensch findet, vom Eintritt seines Bewußtseins an, sich als wollend, und in der Regel bleibt seine Erkenntniß in beständiger Beziehung zu seinem Willen. Er sucht erst die Objekte seines Wollens, dann die Mittel zu diesen, vollständig kennen zu lernen. Jetzt weiß er, was er zu thun hat, und nach anderm Wissen strebt er, in der Regel, nicht. Er handelt und treibt: das Bewußtsein, immer nach dem Ziele seines Wollens hinzuarbeiten, hält ihn aufrecht und thätig: sein Denken betrifft die Wahl der Mittel. So ist das Leben fast aller Menschen: sie wollen, wissen was sie wollen, streben danach mit so vielem Gelingen, als sie vor Verzweiflung, und so vielem Mißlingen, als sie vor Langerweile und deren Folgen schützt. Daraus geht eine gewisse Heiterkeit, wenigstens Gelassenheit hervor, an welcher Reichthum oder Armuth eigentlich nichts ändern: denn der Reiche und der Arme genießen nicht was sie haben, da dies, wie gezeigt, nur negativ wirkt; sondern was sie durch ihr Treiben zu erlangen hoffen. Sie treiben vorwärts, mit vielem Ernst, ja mit wichtiger Miene: so treiben auch die Kinder ihr Spiel. – Es ist immer eine Ausnahme, wenn so ein Lebenslauf eine Störung erleidet dadurch, daß aus einem vom Dienste des Willens unabhängigen und auf das Wesen der Welt überhaupt gerichteten Erkennen, entweder die ästhetische Aufforderung zur Beschaulichkeit, oder die ethische zur Entsagung hervorgeht. Die Meisten jagt die Noth durchs Leben, ohne sie zur Besinnung kommen zu lassen. Hingegen entzündet sich oft der Wille zu einem die Bejahung des Leibes weit übersteigenden Grade, welchen dann heftige Affekte und gewaltige Leidenschaften zeigen, in welchen das Individuum nicht bloß sein eigenes Daseyn bejaht, sondern das der übrigen verneint und aufzuheben sucht, wo es ihm im Wege steht.
Die Erhaltung des Leibes durch dessen eigene Kräfte ist ein so geringer Grad der Bejahung des Willens, daß, wenn es freiwillig bei ihm bliebe, wir annehmen könnten, mit dem Tode dieses Leibes sei auch der Wille erloschen, der in ihm erschien. Allein schon die Befriedigung des Geschlechtstriebes geht über die Bejahung der eigenen Existenz, die eine so kurze Zeit füllt, hinaus, bejaht das Leben über den Tod des Individuums, in eine unbestimmte Zeit hinaus. Die Natur, immer wahr und konsequent, hier sogar naiv, legt ganz offen die innere Bedeutung des Zeugungsaktes vor uns dar. Das eigene Bewußtsein, die Heftigkeit des Triebes, lehrt uns, daß in diesem Akt sich die entschiedenste Bejahung des Willens zum Leben , rein und ohne weitem Zusatz (etwan von Verneinung fremder Individuen) ausspricht; und nun in der Zeit und Kausalreihe, d.h. in der Natur, erscheint als Folge des Akts ein neues Leben: vor den Erzeuger stellt sich der Erzeugte, in der Erscheinung von jenem verschieden, aber an sich, oder der Idee nach, mit ihm identisch. Daher ist es dieser Akt, durch den die Geschlechter der Lebenden sich jedes zu einem Ganzen verbinden und als solches perpetuiren. Die Zeugung ist in Beziehung auf den Erzeuger nur der Ausdruck, das Symptom, seiner entschiedenen Bejahung des Willens zum Leben: in Beziehung auf den Erzeugten ist sie nicht etwan der Grund des Willens, der in ihm erscheint, da der Wille an sich weder Grund noch Folge kennt; sondern sie ist, wie alle Ursache, nur Gelegenheitsursache der Erscheinung dieses Willens zu dieser Zeit an diesem Ort. Als Ding an sich ist der Wille des Erzeugers und der des Erzeugten nicht verschieden; da nur die Erscheinung, nicht das Ding an sich, dem principio individuationis unterworfen ist. Mit jener Bejahung über den eigenen Leib hinaus, und bis zur Darstellung eines neuen, ist auch Leiden und Tod, als zur Erscheinung des Lebens gehörig, aufs Neue mitbejaht und die durch die vollkommenste Erkenntnißfähigkeit herbeigeführte Möglichkeit der Erlösung diesmal für fruchtlos erklärt. Hier liegt der tiefe Grund der Schaam über das Zeugungsgeschäft. – – Diese Ansicht ist mythisch
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