Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
ihr wichtige Data liefern und sie der Mühe überheben, diese im philosophisch unbearbeiteten Stoffe der Specialwissenschaften selbst zu suchen. Diese Specialphilosophien stehn demnach vermittelnd zwischen ihren speciellen Wissenschaften und der eigentlichen Philosophie. Denn da diese die allgemeinsten Aufschlüsse über das Ganze der Dinge zu ertheilen hat; so müssen solche auch auf das Einzelne jeder Art derselben herabgeführt und angewandt werden können. Die Philosophie jeder Wissenschaft entsteht inzwischen unabhängig von der allgemeinen Philosophie, nämlich aus den Datis ihrer eigenen Wissenschaft selbst: daher sie nicht zu warten braucht, bis jene endlich gefunden worden; sondern schon vorher ausgearbeitet, zur wahren allgemeinen Philosophie jedenfalls passen wird. Diese hingegen muß Bestätigung und Erläuterung erhalten können aus den Philosophien der einzelnen Wissenschaften: denn die allgemeinste Wahrheit muß durch die specielleren belegt werden können. Ein schönes Beispiel der Philosophie der Zoologie hat Goethe geliefert an seinen Reflexionen über Dalton's und Pander's Skelette der Nagethiere. (Hefte zur Morphologie, 1824.) Aehnliche Verdienste um die selbe Wissenschaft haben Kielmayer, Delamark, Geoffroy St. Hilaire, Cuvier u.a.m., sofern sie Alle die durchgängige Analogie, die innere Verwandtschaft, den bleibenden Typus und den gesetzmäßigen Zusammenhang der thierischen Gestalten hervorgehoben haben. – Empirische Wissenschaften, rein ihrer selbst wegen und ohne philosophische Tendenz betrieben, gleichen einem Antlitz ohne Augen. Sie sind inzwischen eine passende Beschäftigung für gute Kapacitäten, denen jedoch die höchsten Fähigkeiten abgehn, welche auch eben den minutiösen Forschungen solcher Art hinderlich sein würden. Solche koncentriren ihre ganze Kraft und ihr gesammtes Wissen auf ein einziges abgestecktes Feld, in welchem sie daher, unter der Bedingung gänzlicher Unwissenheit in allem Uebrigen, die möglichst vollständige Erkenntniß erlangen können; während der Philosoph alle Felder übersehn, ja, in gewissem Grad darauf zu Hause seyn muß; wobei diejenige Vollkommenheit, welche man nur durch das Detail erlangt, nothwendig ausgeschlossen bleibt. Dafür aber sind jene den Genfer Arbeitern zu vergleichen, deren Einer lauter Räder, der Andere lauter Federn, der Dritte lauter Ketten macht; der Philosoph hingegen dem Uhrmacher, der aus dem Allen erst ein Ganzes hervorbringt, welches Bewegung und Bedeutung hat. Auch kann man sie den Musicis im Orchester vergleichen, jeder von welchen Meister auf seinem Instrument ist, den Philosophen hingegen dem Kapellmeister, der die Natur und Behandlungsweise jedes Instruments kennen muß, ohne jedoch sie alle, oder auch nur eines, in großer Vollkommenheit, zu spielen. Skotus Erigena begreift alle Wissenschaften unter dem Namen Scientia , im Gegensatz der Philosophie, welche er Sapientia nennt. Die selbe Distinktion haben schon die Pythagoreer gemacht; wie zu ersehn ist aus Stobaei Florilegium, Vol. I, p. 20 , wo sie sehr klar und artig auseinandergesetzt ist. Aber ein überaus glückliches und pikantes Gleichniß des Verhältnisses beider Arten geistiger Bestrebungen zu einander haben die Alten so oft wiederholt, daß man nicht mehr weiß, wem es angehört. Diogenes Laertius (II, 79) schreibt es dem Aristippos zu, Stobäos (Floril. tit. IV, 110) dem Ariston Chios, dem Aristoteles sein Scholiast (S. 8 der Berliner Ausgabe), Plutarch aber (De puer. educ. c. 10) dem Bion, qui ajebat, sicut Penelopes proci, quum non possent cum Penelope concumbere, rem cum ejus ancillis habuissent; ita qui philosophiam nequeunt apprehendere, eos in aliis nullius pretii disciplinis sese conterere . In unserm überwiegend empirischen und historischen Zeitalter kann die Erinnerung daran nicht schaden.
Kapitel 13.Zur Methodenlehre der Mathematik
Die Eukleidische Demonstrirmethode hat aus ihrem eigenen Schooß ihre treffendeste Parodie und Karikatur geboren, an der berühmten Streitigkeit über die Theorie der Parallelen und den sich jedes Jahr wiederholenden Versuchen, das elfte Axiom zu beweisen. Dieses nämlich besagt, und zwar durch das mittelbare Merkmal einer schneidenden dritten Linie, daß zwei sich gegen einander neigende (denn dies eben heißt »kleiner als zwei rechte seyn«), wenn genugsam verlängert, zusammentreffen müssen; welche Wahrheit nun zu komplicirt seyn soll, um für selbstevident zu gelten, daher sie eines Beweises bedarf, der nun
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