Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
jedes durch physiologische Funktionen hervorgebrachten Intellekts: von einem andern aber haben wir keinen Begriff.
Die hier nachgewiesenen wesentlichen Unvollkommenheiten des Intellekts werden nun aber, im einzelnen Falle, stets noch durch unwesentliche erhöht. Nie ist der Intellekt, in jeder Hinsicht, was er möglicherweise seyn könnte: die ihm möglichen Vollkommenheiten stehn einander so entgegen, daß sie sich ausschließen. Daher kann Keiner Plato und Aristoteles, oder Shakespeare und Neuton, oder Kant und Goethe zugleich seyn. Die Unvollkommenheiten des Intellekts hingegen vertragen sich sehr wohl zusammen; weshalb er, in der Wirklichkeit, meistens tief unter Dem bleibt, was er seyn könnte. Seine Funktionen hängen von so gar vielen Bedingungen ab, welche wir, in der Erscheinung , in der sie uns allein gegeben sind, nur als anatomische und physiologische erfassen können, daß ein auch nur in einer Richtung entschieden excellirender Intellekt zu den seltensten Naturerscheinungen gehört; daher eben die Produktionen eines solchen Jahrtausende hindurch aufbewahrt werden, ja, jede Reliquie eines so begünstigten Individuums zum köstlichsten Kleinod wird. Von einem solchen Intellekt bis zu dem, der sich dem Blödsinn nähert, sind der Abstufungen unzählige. Diesen gemäß fällt nun zunächst der geistige Gesichtskreis eines Jeden sehr verschieden aus, nämlich von dem der bloßen Auffassung der Gegenwart, die selbst das Thier hat, zu dem, der doch auch die nächste Stunde, zu dem, der den Tag umfaßt, selbst noch den morgenden, die Woche, das Jahr, das Leben, die Jahrhunderte, Jahrtausende, bis zu dem eines Bewußtseyns, welches fast beständig den, wenn auch undeutlich dämmernden Horizont der Unendlichkeit gegenwärtig hat, dessen Gedanken daher einen diesem angemessenen Charakter annehmen. – Ferner zeigt jener Unterschied der Intelligenzen sich in der Schnelligkeit ihres Denkens, auf welche sehr viel ankommt, und die so verschieden und allmälig abgestuft seyn mag, wie die der Punkte des Radius einer sich drehenden Scheibe. Die Ferne der Folgen und Gründe, zu der das Denken eines Jeden reichen kann, scheint mit der Schnelligkeit des Denkens in einem gewissen Verhältniß zu stehn, indem die größte Spannung der Denkkraft überhaupt nur eine ganz kurze Zeit hindurch anhalten könne, und doch nur während sie dauert ein Gedanke in seiner vollkommenen Einheit sich durchdenken ließe; weshalb es dann darauf ankommt, wie weit der Intellekt ihn in solcher kurzen Zeit verfolgen, also wie viel Weges er in ihr zurücklegen kann. Andererseits mag, bei Manchem, die Schnelligkeit durch das längere Anhalten jener Zeit des vollkommen einheitlichen Denkens ersetzt werden. Wahrscheinlich macht das langsame und anhaltende Denken den mathematischen Kopf, die Schnelle des Denkens das Genie: dieses ist ein Flug, jenes ein sicheres Gehn auf festem Boden, Schritt vor Schritt. Daß man jedoch mit diesem letzteren auch in den Wissenschaften, sobald es nicht mehr auf bloße Größen, sondern auf das Verstehn des Wesens der Erscheinungen ankommt, nicht ausreicht, beweist z.B. Neuton's Farbenlehre, und später Biot's Gefasel über Farbenringe, welches jedoch mit der ganzen atomistischen Betrachtungsweise des Lichts bei den Franzosen, mit ihren molécules de lumière und überhaupt mit ihrer fixen Idee, Alles in der Natur auf bloß mechanische Wirkungen zurückführen zu wollen, zusammenhängt. – Endlich zeigt der in Rede stehende große individuelle Unterschied der Intelligenzen sich vorzüglich im Grade der Klarheit des Verständnisses und demnach in der Deutlichkeit des gesammten Denkens . Dem Einen ist schon Das Verstehn, was dem Andern erst einigermaaßen Merken ist; jener ist schon fertig und am Ziel, wo Dieser erst am Anfang ist; jenem ist schon Das die Lösung, was Diesem erst das Problem. Dies beruht auf der Qualität des Denkens und Wissens, welche bereits oben erwähnt wurde. Wie in Zimmern der Grad der Helle verschieden ist, so in den Köpfen. Diese Qualität des ganzen Denkens spürt man, sobald man nur wenige Seiten eines Schriftstellers gelesen hat. Denn da hat man sogleich mit seinem Verstande und in seinem Sinn zu verstehn gehabt: daher, ehe man noch weiß, was er Alles gedacht hat, man schon sieht, wie er denkt, nämlich welches die formelle Beschaffenheit, die Textur seines Denkens sei, die sich in Allem worüber er denkt, gleich bleibt, und deren Abdruck der Gedankengang und der Stil ist. An diesem
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