Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
prognosticiren: vielmehr werden die ingenia praecocia , die Wunderkinder, in der Regel Flachköpfe; das Genie hingegen ist in der Kindheit oft von langsamen Begriffen und faßt schwer, eben weil es tief faßt. Diesem entspricht es, daß Jeder lachend und ohne Rückhalt die Albernheiten und Dummheiten seiner Kindheit erzählt, z.B. Goethe , wie er alles Kochgeschirr zum Fenster hinausgeworfen (Dichtung und Wahrheit, Bd. 1, S. 7): denn man weiß, daß alles Dieses nur das Veränderliche betrifft. Hingegen die schlechten Züge, die boshaften und hinterlistigen Streiche seiner Jugend wird ein kluger Mann nicht zum Besten geben: denn er fühlt, daß sie auch von seinem gegenwärtigen Charakter noch Zeugniß ablegen. Man hat mir erzählt, daß der Kranioskop und Menschenforscher Gall , wann er mit einem ihm noch unbekannten Mann in Verbindung zu treten hatte, diesen auf seine Jugendjahre und Jugendstreiche zu sprechen brachte, um, wo möglich, daraus die Züge seines Charakters ihm abzulauschen; weil dieser auch jetzt noch der selbe seyn mußte. Eben hierauf beruht es, daß, während wir auf die Thorheiten und den Unverstand unserer Jugendjahre gleichgültig, ja mit lächelndem Wohlgefallen zurücksehn, die schlechten Charakterzüge eben jener Zeit, die damals begangenen Bosheiten und Frevel, selbst im späten Alter als unauslöschliche Vorwürfe dastehn und unser Gewissen beängstigen. – Wie nun also der Charakter sich fertig einstellt, so bleibt er auch bis ins späte Alter unverändert. Der Angriff des Alters, welcher die intellektuellen Kräfte allmälig verzehrt, läßt die moralischen Eigenschaften unberührt. Die Güte des Herzens macht den Greis noch verehrt und geliebt, wann sein Kopf schon die Schwächen zeigt, die ihn dem Kindesalter wieder zu nähern anfangen. Sanftmuth, Geduld, Redlichkeit, Wahrhaftigkeit, Uneigennützigkeit, Menschenfreundlichkeit u.s.w. erhalten sich durch das ganze Leben und gehn nicht durch Altersschwäche verloren: in jedem hellen Augenblick des abgelebten Greises treten sie unvermindert hervor, wie die Sonne aus Winterwolken. Und andererseits bleibt Bosheit, Tücke, Habsucht, Hartherzigkeit, Falschheit, Egoismus und Schlechtigkeit jeder Art auch bis ins späteste Alter unvermindert. Wir würden Dem nicht: glauben, sondern ihn auslachen, der uns sagte: »In frühem Jahren war ich ein boshafter Schurke, jetzt aber bin ich ein redlicher und edelmüthiger Mann.« Recht schön hat daher Walter Scott in Nigels fortunes am alten Wucherer gezeigt, wie brennender Geiz, Egoismus und Unredlichkeit noch in voller Blüthe stehn, gleich den Giftpflanzen im Herbst, und sich noch heftig äußern, nachdem der Intellekt schon kindisch geworden. Die einzigen Veränderungen, welche in unsern Neigungen vorgehn, sind solche, welche unmittelbare Folgen der Abnahme unserer Körperkräfte und damit der Fähigkeiten zum Genießen sind: so wird die Wollust der Völlerei Platz machen, die Prachtliebe dem Geiz, und die Eitelkeit der Ehrsucht; eben wie der Mann, welcher, ehe er noch einen Bart hatte, einen falschen anklebte, späterhin seinen grau gewordenen Bart braun färben wird. Während also alle organischen Kräfte, die Muskelstärke, die Sinne, das Gedächtniß, Witz, Verstand, Genie, sich abnutzen und im Alter stumpf werden, bleibt der Wille allein unversehrt und unverändert: der Drang und die Richtung des Wollens bleibt die selbe. Ja, in manchen Stücken zeigt sich im Alter der Wille noch entschiedener: so, in der Anhänglichkeit am Leben, welche bekanntlich zunimmt; sodann in der Festigkeit und Beharrlichkeit bei Dem, was er ein Mal ergriffen hat, im Eigensinn; welches daraus erklärlich ist, daß die Empfänglichkeit des Intellekts für andere Eindrücke und dadurch die Beweglichkeit des Willens durch hinzuströhmende Motive abgenommen hat: daher die Unversöhnlichkeit des Zorns und Hasses alter Leute:
The young man' s wrath is like light straw on fire;
But like red-hot steel is the old man's ire.
(Old Ballad.) 25
Aus allen diesen Betrachtungen wird es dem tiefern Blicke unverkennbar, daß, während der Intellekt eine lange Reihe allmäliger Entwickelungen zu durchlaufen hat, dann aber, wie alles Physische, dem Verfall entgegengeht, der Wille hieran keinen Theil nimmt, als nur sofern er Anfangs mit der Unvollkommenheit seines Werkzeuges, des Intellekts, und zuletzt wieder mit dessen Abgenutztheit zu kämpfen hat, selbst aber als ein Fertiges auftritt und unverändert bleibt, den Gesetzen der Zeit
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