Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
nach dem längsten Zwischenraume, ihn wiedererkennen und den Ehemaligen unversehrt wiederfinden; eben so auch uns selbst: denn wenn man auch noch so alt wird; so fühlt man doch im Innern sich ganz und gar als den selben, der man war, als man jung, ja, als man noch ein Kind war. Dieses, was unverändert stets ganz das Selbe bleibt und nicht mitaltert, ist eben der Kern unsers Wesens, welcher nicht in der Zeit liegt. – Man nimmt an, die Identität der Person beruhe auf der des Bewußtseyns. Versteht man aber unter dieser bloß die zusammenhängende Erinnerung des Lebenslaufs; so ist sie nicht ausreichend. Wir wissen von unserm Lebenslauf allenfalls etwas mehr, als von einem ehemals gelesenen Roman; dennoch nur das Allerwenigste. Die Hauptbegebenheiten, die interessanten Scenen haben sich eingeprägt: im Uebrigen sind tausend Vorgänge vergessen, gegen einen, der behalten worden. Je älter wir werden, desto spurloser geht Alles vorüber. Hohes Alter, Krankheit, Gehirnverletzung, Wahnsinn, können das Gedächtniß ganz rauben. Aber die Identität der Person ist damit nicht verloren gegangen. Sie beruht auf dem identischen Willen und dem unveränderlichen Charakter desselben. Er eben auch ist es, der den Ausdruck des Blicks unveränderlich macht. Im Herzen steckt der Mensch; nicht im Kopf. Zwar sind wir, in Folge unserer Relation mit der Außenwelt, gewohnt, als unser eigentliches Selbst das Subjekt des Erkennens, das erkennende Ich, zu betrachten, welches am Abend ermattet, im Schlafe verschwindet, am Morgen mit erneuerten Kräften heller strahlt. Dieses ist jedoch die bloße Gehirnfunktion und nicht unser eigenstes Selbst. Unser wahres Selbst, der Kern unsers Wesens, ist Das, was hinter jenem steckt und eigentlich nichts Anderes kennt, als wollen und nichtwollen, zufrieden und unzufrieden seyn, mit allen Modifikationen der Sache, die man Gefühle, Affekte und Leidenschaften nennt. Dies ist Das, was jenes Andere hervorbringt; nicht mitschläft, wann jenes schläft, und eben so, wann dasselbe im Tode untergeht, unversehrt bleibt. – Alles hingegen, was der Erkenntniß angehört, ist der Vergessenheit ausgesetzt: selbst die Handlungen von moralischer Bedeutsamkeit sind uns, nach Jahren, bisweilen nicht vollkommen erinnerlich, und wir wissen nicht mehr genau und ins Einzelne, wie wir in einem kritischen Fall gehandelt haben. Aber der Charakter selbst, von dem die Thaten bloß Zeugniß ablegen, kann von uns nicht vergessen werden: er ist jetzt noch ganz der selbe, wie damals. Der Wille selbst, allein und für sich, beharrt: denn er allein ist unveränderlich, unzerstörbar, nicht alternd, nicht physisch, sondern metaphysisch, nicht zur Erscheinung gehörig, sondern das Erscheinende selbst. Wie auf ihm auch die Identität des Bewußtseins, so weit sie geht, beruht, habe ich oben, Kapitel 15, nachgewiesen, brauche mich also hier nicht weiter damit aufzuhalten.
11) Aristoteles sagt beiläufig, im Buch über die Vergleichung des Wünschenswerthen: »gut leben ist besser als leben« ( beltion tou zên to eu zên , Top. III, 2). Hieraus ließe sich, mittelst zweimaliger Kontraposition, folgern: nicht leben ist besser als schlecht leben. Dies ist dem Intellekt auch einleuchtend: dennoch leben die Allermeisten sehr schlecht, lieber als gar nicht. Diese Anhänglichkeit an das Leben kann also nicht im Objekt derselben ihren Grund haben, da das Leben, wie im vierten Buche gezeigt worden, eigentlich ein stetes Leiden, oder wenigstens, wie weiter unten, Kapitel 28 dargethan wird, ein Geschäft ist, welches die Kosten nicht deckt: also kann jene Anhänglichkeit nur im Subjekt derselben gegründet seyn. Sie ist aber nicht im Intellekt gegründet, ist keine Folge der Ueberlegung, und überhaupt keine Sache der Wahl; sondern dies Lebenwollen ist etwas, das sich von selbst versteht: es ist ein prius des Intellekts selbst. Wir selbst sind der Wille zum Leben: daher müssen wir leben, gut oder schlecht. Nur daraus, daß diese Anhänglichkeit an ein Leben, welches ihrer so wenig werth ist, ganz a priori und nicht a posteriori ist, erklärt sich die allem Lebenden einwohnende, überschwängliche Todesfurcht, welche Rochefoucauld mit seltener Freimüthigkeit und Naivetät, in seiner letzten Reflexion, ausgesprochen hat, und auf der auch die Wirksamkeit aller Trauerspiele und Heldenthaten zuletzt beruht, als welche wegfallen würde, wenn wir das Leben nur nach seinem objektiven Werthe schätzten. Auf diesen unaussprechlichen horror mortis
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