Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Veränderung in uns, die man auch als einen Akt der Selbstverleugnung betrachten könnte; sofern sie darin besteht, daß die Erkenntniß sich ein Mal vom eigenen Willen gänzlich abwendet, also das ihr anvertraute theure Pfand jetzt gänzlich aus den Augen läßt und die Dinge so betrachtet, als ob sie den Willen nie etwas angehn könnten. Denn hiedurch allein wird die Erkenntniß zum reinen Spiegel des objektiven Wesens der Dinge. Jedem ächten Kunstwerk muß eine so bedingte Erkenntniß, als sein Ursprung, zum Grunde liegen. Die zu derselben erforderte Veränderung im Subjekte kann, eben weil sie in der Elimination alles Wollens besteht, nicht vom Willen ausgehn, also kein Akt der Willkür seyn, d.h. nicht in unserm Belieben stehn. Vielmehr entspringt sie allein aus einem temporären Ueberwiegen des Intellekts über den Willen, oder, physiologisch betrachtet, aus einer starken Erregung der anschauenden Gehirnthätigkeit, ohne alle Erregung der Neigungen oder Affekte. Um dies etwas genauer zu erläutern, erinnere ich daran, daß unser Bewußtseyn zwei Seiten hat: theils nämlich ist es Bewußtseyn vom eigenen Selbst , welches der Wille ist; theils Bewußtseyn von andern Dingen , und als solches zunächst anschauende Erkenntniß der Außenwelt, Auffassung der Objekte. Je mehr nun die eine Seite des gesammten Bewußtseyns hervortritt, desto mehr weicht die andere zurück. Demnach wird das Bewußtseyn anderer Dinge , also die anschauende Erkenntniß, um so vollkommener, d.h. um so objektiver, je weniger wir uns dabei des eigenen Selbst bewußt sind. Hier findet wirklich ein Antagonismus Statt. Je mehr wir des Objekts uns bewußt sind, desto weniger des Subjekts: je mehr hingegen dieses das Bewußtseyn einnimmt, desto schwächer und unvollkommener ist unsere Anschauung der Außenwelt. Der zur reinen Objektivität der Anschauung erforderte Zustand hat theils bleibende Bedingungen, in der Vollkommenheit des Gehirns und der seiner Thätigkeit günstigen physiologischen Beschaffenheit überhaupt; theils vorübergehende, sofern derselbe begünstigt wird durch Alles, was die Spannung und Empfänglichkeit des cerebralen Nervensystems, jedoch ohne Erregung irgend einer Leidenschaft, erhöht. Man denke hiebei nicht an geistige Getränke, oder Opium: vielmehr gehört dahin eine ruhig durchschlafene Nacht, ein kaltes Bad und Alles was, durch Beruhigung des Blutumlaufs und der Leidenschaftlichkeit, der Gehirnthätigkeit ein unerzwungenes Uebergewicht verschafft. Diese naturgemäßen Beförderungsmittel der cerebralen Nerventhätigkeit sind es vorzüglich, welche, freilich um so besser, je entwickelter und energischer überhaupt das Gehirn ist, bewirken, daß immer mehr das Objekt sich vom Subjekt ablöst, und endlich jenen Zustand der reinen Objektivität der Anschauung herbeiführen, welcher von selbst den Willen aus dem Bewußtseyn eliminirt und in welchem alle Dinge mit erhöhter Klarheit und Deutlichkeit vor uns stehn; so daß wir beinah bloß von ihnen wissen, und fast gar nicht von uns ; also unser ganzes Bewußtseyn fast nichts weiter ist, als das Medium, dadurch das angeschaute Objekt in die Welt als Vorstellung eintritt. Zum reinen willenlosen Erkennen kommt es also, indem das Bewußtseyn anderer Dinge sich so hoch potenzirt, daß das Bewußtseyn vom eigenen Selbst verschwindet. Denn nur dann faßt man die Welt rein objektiv auf, wann man nicht mehr weiß, daß man dazu gehört; und alle Dinge stellen sich um so schöner dar, je mehr man sich bloß ihrer und je weniger man sich seiner selbst bewußt ist. – Da nun alles Leiden aus dem Willen, der das eigentliche Selbst ausmacht, hervorgeht; so ist, mit dem Zurücktreten dieser Seite des Bewußtseyns, zugleich alle Möglichkeit des Leidens aufgehoben, wodurch der Zustand der reinen Objektivität der Anschauung ein durchaus beglückender wird; daher ich in ihm den einen der zwei Bestandtheile des ästhetischen Genusses nachgewiesen habe. Sobald hingegen das Bewußtseyn des eigenen Selbst, also die Subjektivität, d.i. der Wille, wieder das Uebergewicht erhält, tritt auch ein demselben angemessener Grad von Unbehagen oder Unruhe ein: von Unbehagen, sofern die Leiblichkeit (der Organismus, welcher an sich Wille ist) wieder fühlbar wird; von Unruhe, sofern der Wille, auf geistigem Wege, durch Wünsche, Affekte, Leidenschaften, Sorgen, das Bewußtseyn wieder erfüllt. Denn überall ist der Wille, als das Princip der Subjektivität, der Gegensatz, ja, Antagonist der
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