Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Richtung derselben im Einzelnen bestimmen: sonst wäre die Ursache der Wirkung gar nicht angemessen. Denn, wie jede Aeußerung einer Naturkraft eine Ursache hat, die Naturkraft selbst aber keine; so hat jeder einzelne Willensakt ein Motiv, der Wille überhaupt aber keines: ja, im Grunde ist dies Beides Eins und das Selbe. Ueberall ist der Wille, als das Metaphysische, der Gränzstein jeder Betrachtung, über den sie nirgends hinauskann. Aus der dargelegten Ursprünglichkeit und Unbedingtheit des Willens ist es erklärlich, daß der Mensch ein Daseyn voll Noth, Plage, Schmerz, Angst und dann wieder voll Langerweile, welches, rein objektiv betrachtet und erwogen, von ihm verabscheut werden müßte, über Alles liebt und dessen Ende, welches jedoch das einzige Gewisse für ihn ist, über Alles fürchtet 36 . – Demgemäß sehn wir oft eine Jammergestalt, von Alter, Mangel und Krankheit verunstaltet und gekrümmt, aus Herzensgrunde unsere Hülfe anrufen, zur Verlängerung eines Daseyns, dessen Ende als durchaus wünschenswerth erscheinen müßte, wenn ein objektives Urtheil hier das Bestimmende wäre. Statt dessen also ist es der blinde Wille, auftretend als Lebenstrieb, Lebenslust, Lebensmuth: es ist das Selbe, was die Pflanze wachsen macht. Diesen Lebensmuth kann man vergleichen mit einem Seile, welches über dem Puppenspiel der Menschenwelt ausgespannt wäre und woran die Puppen mittelst unsichtbarer Fäden hiengen, während sie bloß scheinbar von dem Boden unter ihnen (dem objektiven Werthe des Lebens) getragen würden. Wird jedoch dieses Seil ein Mal schwach, so senkt sich die Puppe; reißt es, so muß sie fallen: denn der Boden unter ihr trug sie nur scheinbar: d.h. das Schwachwerden jener Lebenslust zeigt sich als Hypochondrie, spleen , Melancholie; ihr gänzliches Versiegen als Hang zum Selbstmord, der alsdann bei dem geringfügigsten, ja, einem bloß eingebildeten Anlaß eintritt, indem jetzt der Mensch gleichsam Händel mit sich selbst sucht, um sich todtzuschießen, wie Mancher es, zu gleichem Zweck, mit einem Andern macht: – sogar wird, zur Noth, ohne allen besondern Anlaß zum Selbstmord gegriffen. (Belege hiezu findet man in Esquirol, Des maladies mentales , 1838.) Und wie mit dem Ausharren im Leben, so ist es auch mit dem Treiben und der Bewegung desselben. Diese ist nicht etwas irgend frei Erwähltes: sondern, während eigentlich Jeder gern ruhen möchte, sind Noth und Langeweile die Peitschen, welche die Bewegung der Kreisel unterhalten. Daher trägt das Ganze und jedes Einzelne das Gepräge eines erzwungenen Zustandes und Jeder, indem er, innerlich träge, sich nach Ruhe sehnt, doch aber vorwärts muß, gleicht seinem Planeten, der nur darum nicht auf die Sonne fällt, weil eine ihn vorwärts treibende Kraft ihn nicht dazu kommen läßt. So ist denn Alles in fortdauernder Spannung und abgenöthigter Bewegung, und das Treiben der Welt geht, einen Ausdruck des Aristoteles (de coelo, II, 13) zu gebrauchen, ou physei, alla bia (motu, non naturali, sed violento) vor sich. Die Menschen werden nur scheinbar von vorne gezogen, eigentlich aber von hinten geschoben: nicht das Leben lockt sie an, sondern die Noth drängt sie vorwärts. Das Gesetz der Motivation ist, wie alle Kausalität, bloße Form der Erscheinung. – Beiläufig gesagt, liegt hier der Ursprung des Komischen, des Burlesken, Grottesken, der fratzenhaften Seite des Lebens: denn wider Willen vorwärts getrieben geberdet Jeder sich wie er eben kann, und das so entstehende Gedränge nimmt sich oft possirlich aus; so ernsthaft auch die Plage ist, welche darin steckt.
An allen diesen Betrachtungen also wird uns deutlich, daß der Wille zum Leben nicht eine Folge der Erkenntniß des Lebens, nicht irgendwie eine conclusio ex praemissis und überhaupt nichts Sekundäres ist: vielmehr ist er das Erste und Unbedingte, die Prämisse aller Prämissen und eben deshalb Das, wovon die Philosophie auszugehn hat; indem der Wille zum Leben sich nicht in Folge der Welt einfindet, sondern die Welt in Folge des Willens zum Leben.
Ich brauche wohl kaum darauf aufmerksam zu machen, daß die Betrachtungen, mit welchen wir hier das zweite Buch beschließen, schon stark hindeuten auf das ernste Thema des vierten Buches, ja geradezu darin übergehn würden, wenn meine Architektonik nicht nöthig machte, daß erst, als eine zweite Betrachtung der Welt als Vorstellung, unser drittes Buch, mit seinem heitern Inhalt, dazwischenträte, dessen Schluß jedoch wieder eben
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