Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Zahlenverhältnissen der Vibrationen unzählige Grade, Nuancen, Folgen und Abwechselungen zuläßt; so wird, mittelst seiner, die Musik der Stoff, in welchem alle Bewegungen des menschlichen Herzens, d.i. des Willens, deren Wesentliches immer auf Befriedigung und Unzufriedenheit, wiewohl in unzähligen Graden, hinausläuft, sich in allen ihren feinsten Schattirungen und Modifikationen getreu abbilden und wiedergeben lassen, welches mittelst Erfindung der Melodie geschieht. Wir sehn also hier die Willensbewegungen auf das Gebiet der bloßen Vorstellung hinübergespielt, als welche der ausschließliche Schauplatz der Leistungen aller schönen Künste ist; da diese durchaus verlangen, daß der Wille selbst aus dem Spiel bleibe und wir durchweg uns als rein Erkennende verhalten. Daher dürfen die Affektionen des Willens selbst, also wirklicher Schmerz und wirkliches Behagen, nicht erregt werden, sondern nur ihre Substitute, das dem Intellekt Angemessene, als Bild der Befriedigung des Willens, und das jenem mehr oder weniger Widerstrebende, als Bild des größern oder geringem Schmerzes. Nur so verursacht die Musik uns nie wirkliches Leiden, sondern bleibt auch in ihren schmerzlichsten Ackorden noch erfreulich, und wir vernehmen gern in ihrer Sprache die geheime Geschichte unsers Willens und aller seiner Regungen und Strebungen, mit ihren mannigfaltigen Verzögerungen, Hemmnissen und Quaalen, selbst noch in den wehmüthigsten Melodien. Wo hingegen, in der Wirklichkeit und ihren Schrecken, unser Wille selbst das so Erregte und Gequälte ist; da haben wir es nicht mit Tönen und ihren Zahlenverhältnissen zu thun, sondern sind vielmehr jetzt selbst die gespannte, gekniffene und zitternde Saite.
Weil nun ferner, in Folge der zum Grunde gelegten physikalischen Theorie, das eigentlich Musikalische der Töne in der Proportion der Schnelligkeit ihrer Vibrationen, nicht aber in ihrer relativen Stärke liegt; so folgt das musikalische Gehör, bei der Harmonie, stets vorzugsweise dem höchsten Ton, nicht dem stärksten: daher sticht, auch bei der stärksten Orchesterbegleitung, der Sopran hervor und erhält dadurch ein natürliches Recht auf den Vortrag der Melodie, welches zugleich unterstützt wird durch seine, auf der selben Schnelligkeit der Vibrationen beruhende, große Beweglichkeit, wie sie sich in den figurirten Sätzen zeigt, und wodurch der Sopran der geeignete Repräsentant der erhöhten, für den leisesten Eindruck empfänglichen und durch ihn bestimmbaren Sensibilität, folglich des auf der obersten Stufe der Wesenleiter stehenden, aufs höchste gesteigerten Bewußtseyns wird. Seinen Gegensatz bildet, aus den umgekehrten Ursachen, der schwerbewegliche, nur in großen Stufen, Terzen, Quarten und Quinten, steigende und fallende und dabei in jedem seiner Schritte durch feste Regeln geleitete Baß, welcher daher der natürliche Repräsentant des gefühllosen, für feine Eindrücke unempfänglichen und nur nach allgemeinen Gesetzen bestimmbaren, unorganischen Naturreiches ist. Er darf sogar nie um einen Ton, z.B. von Quarte auf Quinte steigen; da dies in den obern Stimmen die fehlerhafte Quinten- und Oktaven-Folge herbeiführt: daher kann er, ursprünglich und in seiner eigenen Natur, nie die Melodie vortragen. Wird sie ihm dennoch zugetheilt; so geschieht es mittelst des Kontrapunkts, d.h. er ist ein versetzter Baß, nämlich eine der obern Stimmen ist herabgesetzt und als Baß verkleidet: eigentlich bedarf er dann noch eines zweiten Grundbasses zu seiner Begleitung, Diese Widernatürlichkeit einer im Basse liegenden Melodie führt herbei, daß Baßarien, mit voller Begleitung, uns nie den reinen, ungetrübten Genuß gewähren, wie die Sopranarie, als welche, im Zusammenhang der Harmonie, allein naturgemäß ist. Beiläufig gesagt, könnte ein solcher melodischer, durch Versetzung erzwungener Baß, im Sinn unserer Metaphysik der Musik, einem Marmorblocke verglichen werden, dem man die menschliche Gestalt aufgezwungen hat: dem steinernen Gast im »Don Juan« ist er eben dadurch wundervoll angemessen.
Jetzt aber wollen wir noch der Genesis der Melodie etwas näher auf den Grund gehn, welches durch Zerlegung derselben in ihre Bestandtheile zu bewerkstelligen ist und uns jedenfalls das Vergnügen gewähren wird, welches dadurch entsteht, daß man sich Dinge, die in concreto Jedem bewußt sind, ein Mal auch zum abstrakten und deutlichen Bewußtseyn bringt, wodurch sie den Schein der Neuheit gewinnen.
Die Melodie besteht aus
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