Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
zwei Elementen, einem rhythmischen und einem harmonischen: jenes kann man auch als das quantitative, dieses als das qualitative bezeichnen, da das erstere die Dauer, das letztere die Höhe und Tiefe der Töne betrifft. In der Notenschrift hängt das erstere den senkrechten, das letztere den horizontalen Linien an. Beiden liegen rein arithmetische Verhältnisse, also die der Zeit, zum Grunde: dem einen die relative Dauer der Töne, dem andern die relative Schnelligkeit ihrer Vibrationen. Das rhythmische Element ist das wesentlichste; da es, für sich allein und ohne das andere eine Art Melodie darzustellen vermag, wie z.B. auf der Trommel geschieht: die vollkommene Melodie verlangt jedoch beide. Sie besteht nämlich in einer abwechselnden Entzweiung und Versöhnung derselben; wie ich sogleich zeigen werde, aber zuvor, da von dem harmonischen Elemente schon im Bisherigen die Rede gewesen, das rhythmische etwas näher betrachten will.
Der Rhythmus ist in der Zeit was im Raume die Symmetrie ist, nämlich Theilung in gleiche und einander entsprechende Theile, und zwar zunächst in größere, welche wieder in kleinere, jenen untergeordnete, zerfallen. In der von mir aufgestellten Reihe der Künste bilden Architektur und Musik die beiden äußersten Enden. Auch sind sie, ihrem innern Wesen, ihrer Kraft, dem Umfang ihrer Sphäre und ihrer Bedeutung nach, die heterogensten, ja, wahre Antipoden: sogar auf die Form ihrer Erscheinung erstreckt sich dieser Gegensatz, indem die Architektur allein im Raum ist, ohne irgend eine Beziehung auf die Zeit, die Musik allein in der Zeit , ohne irgend eine Beziehung auf den Raum 52 . Hieraus nun entspringt ihre einzige Analogie, daß nämlich, wie in der Architektur die Symmetrie das Ordnende und Zusammenhaltende ist, so in der Musik der Rhythmus , wodurch auch hier sich bewährt, daß les extrêmes se touchent . Wie die letzten Bestandtheile eines Gebäudes die ganz gleichen Steine, so sind die eines Tonstückes die ganz gleichen Takte: diese werden jedoch noch durch Auf- und Niederschlag, oder überhaupt durch den Zahlenbruch, welcher die Taktart bezeichnet, in gleiche Theile getheilt, die man allenfalls den Dimensionen des Steines vergleichen mag. Aus mehreren Takten besteht die musikalische Periode, welche ebenfalls zwei gleiche Hälften hat, eine steigende, anstrebende, meistens zur Dominante gehende, und eine sinkende, beruhigende, den Grundton wiederfindende. Zwei, auch wohl mehrere Perioden machen einen Theil aus, der meistens durch das Wiederholungszeichen gleichfalls symmetrisch verdoppelt wird: aus zwei Theilen wird ein kleineres Musikstück, oder aber nur ein Satz eines größern; wie denn ein Koncert oder Sonate aus dreien, eine Symphonie aus vier, eine Messe aus fünf Sätzen zu bestehn pflegt. Wir sehn also das Tonstück, durch die symmetrische Eintheilung und abermalige Theilung, bis zu den Takten und deren Brüchen herab, bei durchgängiger Unter-, Ueber- und Neben-Ordnung seiner Glieder, gerade so zu einem Ganzen verbunden und abgeschlossen werden, wie das Bauwerk durch seine Symmetrie; nur daß bei diesem ausschließlich im Raume ist, was bei jenem ausschließlich in der Zeit. Das bloße Gefühl dieser Analogie hat das in den letzten 30 Jahren oft wiederholte kecke Witzwort hervorgerufen, daß Architektur gefrorene Musik sei. Der Ursprung desselben ist auf Goethe zurückzuführen, da er, nach Eckermanns Gesprächen, Bd. II, S. 88, gesagt hat: »Ich habe unter meinen Papieren ein Blatt gefunden, wo ich die Baukunst eine erstarrte Musik nenne: und wirklich hat es etwas: die Stimmung, die von der Baukunst ausgeht, kommt dem Effekt der Musik nahe.« Wahrscheinlich hat er viel früher jenes Witzwort in der Konversation fallen lassen, wo es denn bekanntlich nie an Leuten gefehlt hat, die was er so fallen ließ auflasen, um nachher damit geschmückt einher zu gehn. Was übrigens Goethe auch gesagt haben mag, so erstreckt die hier von mir auf ihren alleinigen Grund, nämlich auf die Analogie des Rhythmus mit der Symmetrie, zurückgeführte Analogie der Musik mit der Baukunst sich demgemäß allein auf die äußere Form, keineswegs aber auf das innere Wesen beider Künste, als welches himmelweit verschieden ist: es wäre sogar lächerlich, die beschränkteste und schwächste aller Künste mit der ausgedehntesten und wirksamsten im Wesentlichen gleich stellen zu wollen. Als Amplifikation der nachgewiesenen Analogie könnte man noch hinzusetzen, daß, wann die Musik, gleichsam in
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