Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
einem Anfall von Unabhängigkeitsdrang, die Gelegenheit einer Fermate ergreift, um sich, vom Zwang des Rhythmus losgerissen, in der freien Phantasie einer figurirten Kadenz zu ergehn, ein solches vom Rhythmus entblößtes Tonstück der von der Symmetrie entblößten Ruine analog sei, welche man demnach, in der kühnen Sprache jenes Witzwortes, eine gefrorene Kadenz nennen mag.
Nach dieser Erörterung des Rhythmus habe ich jetzt darzuthun, wie in der stets erneuerten Entzweiung und Versöhnung des rhythmischen Elements der Melodie mit dem harmonischen das Wesen derselben besteht. Ihr harmonisches Element nämlich hat den Grundton zur Voraussetzung, wie das rhythmische die Taktart, und besteht in einem Abirren von demselben, durch alle Töne der Skala, bis es, auf kürzerem oder längerem Umwege, eine harmonische Stufe, meistens die Dominante oder Unterdominante, erreicht, die ihm eine unvollkommene Beruhigung gewährt: dann aber folgt, auf gleich langem Wege, seine Rückkehr zum Grundton, mit welchem die vollkommene Beruhigung eintritt. Beides muß nun aber so geschehn, daß das Erreichen der besagten Stufe, wie auch das Wiederfinden des Grundtons, mit gewissen bevorzugten Zeitpunkten des Rhythmus zusammentreffe, da es sonst nicht wirkt. Also, wie die harmonische Tonfolge gewisse Töne verlangt, vorzüglich die Tonika, nächst ihr die Dominante u.s.w.; so fordert seinerseits der Rhythmus gewisse Zeitpunkte , gewisse abgezählte Takte und gewisse Theile dieser Takte, welche man die schweren, oder guten Zeiten, oder die accentuirten Takttheile nennt, im Gegensatz der leichten, oder schlechten Zeiten, oder unaccentuirten Takttheile. Nun besteht die Entzweiung jener beiden Grundelemente darin, daß indem die Forderung des einen befriedigt wird, die des andern es nicht ist, die Versöhnung aber darin, daß beide zugleich und auf ein Mal befriedigt werden. Nämlich jenes Herumirren der Tonfolge, bis zum Erreichen einer mehr oder minder harmonischen Stufe, muß diese erst nach einer bestimmten Anzahl Takte, sodann aber auf einem guten Zeittheil des Taktes antreffen, wodurch dieselbe zu einem gewissen Ruhepunkte für sie wird; und eben so muß die Rückkehr zur Tonika diese nach einer gleichen Anzahl Takte und ebenfalls auf einem guten Zeittheil wiederfinden, wodurch dann die völlige Befriedigung eintritt. So lange dieses geforderte Zusammentreffen der Befriedigungen beider Elemente nicht erreicht wird, mag einerseits der Rhythmus seinen regelrechten Gang gehn, und andererseits die geforderten Noten oft genug vorkommen; sie werden dennoch ganz ohne jene Wirkung bleiben, durch welche die Melodie entsteht: dies zu erläutern diene das folgende, höchst einfache Beispiel:
Hier trifft die harmonische Tonfolge gleich am Schluß des ersten Takts auf die Tonika: allein sie erhält dadurch keine Befriedigung; weil der Rhythmus im schlechtesten Takttheile begriffen ist. Gleich darauf, im zweiten Takt, hat der Rhythmus das gute Takttheil; aber die Tonfolge ist auf die Septime gekommen. Hier sind also die beiden Elemente der Melodie ganz entzweit ; und wir fühlen uns beunruhigt. In der zweiten Hälfte der Periode trifft Alles umgekehrt, und sie werden, im letzten Ton, versöhnt . Dieser Vorgang ist in jeder Melodie, wiewohl meistens in viel größerer Ausdehnung, nachzuweisen. Die dabei nun Statt findende beständige Entzweiung und Versöhnung ihrer beiden Elemente ist, metaphysisch betrachtet, das Abbild der Entstehung neuer Wünsche und sodann ihrer Befriedigung. Eben dadurch schmeichelt die Musik sich so in unser Herz, daß sie ihm stets die vollkommene Befriedigung seiner Wünsche vorspiegelt. Näher betrachtet, sehn wir in diesem Hergang der Melodie eine gewissermaaßen innere Bedingung (die harmonische) mit einer äußern (der rhythmischen) wie durch einen Zufall zusammentreffen, – welchen freilich der Komponist herbeiführt und der insofern dem Reim in der Poesie zu vergleichen ist: dies aber eben ist das Abbild des Zusammentreffens unserer Wünsche mit den von ihnen unabhängigen, günstigen, äußeren Umständen, also das Bild des Glücks. – Noch verdient hiebei die Wirkung des Vorhalts beachtet zu werden. Er ist eine Dissonanz, welche die mit Gewißheit erwartete, finale Konsonanz verzögert; wodurch das Verlangen nach ihr verstärkt wird und ihr Eintritt desto mehr befriedigt: offenbar ein Analogen der durch Verzögerung erhöhten Befriedigung des Willens. Die vollkommene Kadenz erfordert den vorhergehenden
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