Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Septimenackord auf der Dominante; weil nur auf das dringendeste Verlangen die am tiefsten gefühlte Befriedigung und gänzliche Beruhigung folgen kann. Durchgängig also besteht die Musik in einem steten Wechsel von mehr oder minder beunruhigenden, d.i. Verlangen erregenden Ackorden, mit mehr oder minder beruhigenden und befriedigenden; eben wie das Leben des Herzens (der Wille) ein steter Wechsel von größerer oder geringerer Beunruhigung, durch Wunsch oder Furcht, mit eben so verschieden gemessener Beruhigung ist. Demgemäß besteht die harmonische Fortschreitung in der kunstgerechten Abwechselung der Dissonanz und Konsonanz. Eine Folge bloß konsonanter Ackorde würde übersättigend, ermüdend und leer seyn, wie der languor , den die Befriedigung aller Wünsche herbeiführt. Daher müssen Dissonanzen, obwohl sie beunruhigend und fast peinlich wirken, eingeführt werden, aber nur um, mit gehöriger Vorbereitung, wieder in Konsonanzen aufgelöst zu werden. Ja, es giebt eigentlich in der ganzen Musik nur zwei Grundackorde: den dissonanten Septimenackord und den harmonischen Dreiklang, als auf welche alle vorkommenden Ackorde zurückzuführen sind. Dies ist eben Dem entsprechend, daß es für den Willen im Grunde nur Unzufriedenheit und Befriedigung giebt, unter wie vielerlei Gestalten sie auch sich darstellen mögen. Und wie es zwei allgemeine Grundstimmungen des Gemüths giebt, Heiterkeit oder wenigstens Rüstigkeit, und Betrübniß oder doch Beklemmung; so hat die Musik zwei allgemeine Tonarten Dur und Moll, welche jenen entsprechen, und sie muß stets sich in einer von beiden befinden. Es ist aber in der That höchst wunderbar, daß es ein weder physisch schmerzliches, noch auch konventionelles, dennoch sogleich ansprechendes und unverkennbares Zeichen des Schmerzes giebt: das Moll. Daran läßt sich ermessen, wie tief die Musik im Wesen der Dinge und des Menschen gegründet ist. – Bei nordischen Völkern, deren Leben schweren Bedingungen unterliegt, namentlich bei den Russen, herrscht das Moll vor, sogar in der Kirchenmusik. – Allegro in Moll ist in der Französischen Musik sehr häufig und charakterisirt sie: es ist, wie wenn Einer tanzt, während ihn der Schuh drückt.
Ich füge noch ein Paar Nebenbetrachtungen hinzu. – Unter dem Wechsel der Tonika, und mit ihr des Werthes aller Stufen, in Folge dessen der selbe Ton als Sekunde, Terz, Quarte u.s.w. figurirt, sind die Töne der Skala den Schauspielern analog, welche bald diese, bald jene Rolle übernehmen müssen, während ihre Person die selbe bleibt. Daß diese jener oft nicht genau angemessen ist, kann man der (am Schluß des § 52 des ersten Bandes erwähnten) unvermeidlichen Unreinheit jedes harmonischen Systems vergleichen, welche die gleichschwebende Temperatur herbeigeführt hat. –
Vielleicht könnte Einer und der Andere daran Anstoß nehmen, daß die Musik, welche ja oft so geisterhebend auf uns wirkt, daß uns dünkt, sie rede von andern und besseren Welten, als die unsere ist, nach gegenwärtiger Metaphysik derselben, doch eigentlich nur dem Willen zum Leben schmeichelt, indem sie sein Wesen darstellt, sein Gelingen ihm vormalt und am Schluß seine Befriedigung und Genügen ausdrückt. Solche Bedenken zu beruhigen mag folgende Veda-Stelle dienen: Et Anand sroup , quod forma gaudii est , ton pram Atma ex hoc dicunt, quod quocunque loco gaudium est, particula e gaudio ejus est. ( Oupnekhat, Vol. I, p. 405, et iterum Vol. II, p. 215 )
Ergänzungen zum vierten Buch.
Tous les hommes désirent uniquement de se délivrer de la mort: ils ne savent pas se délivrer de la vie.
Lao-tseu-Tao-te-king ,
ed. Stan. Julien , p. 184.
Kapitel 40. Vorwort
Die Ergänzungen zu diesem vierten Buche würden sehr beträchtlich ausfallen, wenn nicht zwei ihrer vorzüglich bedürftige Hauptgegenstände, nämlich die Freiheit des Willens und das Fundament der Moral, auf Anlaß der Preisfragen zweier Skandinavischer Akademien, ausführliche, monographische Bearbeitungen von mir erhalten hätten, welche unter dem Titel »Die beiden Grundprobleme der Ethik« im Jahre 1841 dem Publiko vorgelegt sind. Demzufolge aber setze ich die Bekanntschaft mit der eben genannten Schrift bei meinen Lesern eben so unbedingt voraus, wie ich bei den Ergänzungen zum zweiten Buche die mit der Schrift »Ueber den Willen in der Natur« vorausgesetzt habe. Ueberhaupt mache ich die Anforderung, daß wer sich mit meiner Philosophie bekannt machen will, jede Zeile von mir lese. Denn ich
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