Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
geht sein Handeln, an der Kette der Motive, mit Nothwendigkeit vor sich. Nun trägt aber Jeder in seiner Erinnerung gar Vieles, das er gethan, und worüber er nicht mit sich selbst zufrieden ist. Lebte er nun immerfort; so würde er, vermöge der Unveränderlichkeit des Charakters, auch immerfort auf die selbe Weise handeln. Demnach muß er aufhören zu seyn was er ist, um aus dem Keim seines Wesens als ein neues und anderes hervorgehn zu können, Daher löst der Tod jene Bande: der Wille wird wieder frei: denn im Esse , nicht im Operari liegt die Freiheit: Finditur nodus cordis, dissolvuntur omnes dubitationes, ejusque opera evanescunt , ist ein sehr berühmter Ausspruch des Veda, den alle Vedantiker häufig wiederholen 58 . Das Sterben ist der Augenblick jener Befreiung von der Einseitigkeit einer Individualität, welche nicht den innersten Kern unsers Wesens ausmacht, vielmehr als eine Art Verirrung desselben zu denken ist: die wahre, ursprüngliche Freiheit tritt wieder ein, in diesem Augenblick, welcher, im angegebenen Sinn, als eine restitutio in integrum betrachtet werden kann. Der Friede und die Beruhigung auf dem Gesichte der meisten Todten scheint daher zu stammen. Ruhig und sanft ist, in der Regel, der Tod jedes guten Menschen: aber willig sterben, gern sterben, freudig sterben, ist das Vorrecht des Resignirten, Dessen, der den Willen zum Leben aufgiebt und verneint. Denn nur er will wirklich und nicht bloß scheinbar sterben, folglich braucht und verlangt er keine Fortdauer seiner Person. Das Daseyn, welches wir kennen, giebt er willig auf: was ihm statt dessen wird, ist in unsern Augen nichts ; weil unser Daseyn, auf jenes bezogen, nichts ist. Der Buddhaistische Glaube nennt jenes Nirwana , d.h. Erloschen 59 .
Kapitel 42. Leben der Gattung
Im vorhergehenden Kapitel wurde in Erinnerung gebracht, daß die (Platonischen) Ideen der verschiedenen Stufen der Wesen, welche die adäquate Objektivation des Willens zum Leben sind, in der an die Form der Zeit gebundenen Erkenntniß des Individuums sich als die Gattungen , d.h. als die durch das Band der Zeugung verbundenen, successiven und gleichartigen Individuen darstellen, und daß daher die Gattung die in der Zeit auseinandergezogene Idee ( eidos , species ) ist. Demzufolge liegt das Wesen an sich jedes Lebenden zunächst in seiner Gattung: diese hat jedoch ihr Daseyn wieder nur in den Individuen. Obgleich nun der Wille nur im Individuo zum Selbstbewußtseyn gelangt, sich also unmittelbar nur als das Individuum erkennt; so tritt das in der Tiefe liegende Bewußtseyn, daß eigentlich die Gattung es ist, in der sein Wesen sich objektivirt, doch darin hervor, daß dem Individuo die Angelegenheiten der Gattung als solcher, also die Geschlechtsverhältnisse, die Zeugung und Ernährung der Brut, ungleich wichtiger und angelegener sind, als alles Andere. Daher also bei den Thieren die Brunst (von deren Vehemenz man eine vortreffliche Schilderung findet in Burdachs Physiologie, Bd. I, §§ 247, 257), und beim Menschen die sorgfältige und kapriziöse Auswahl des andern Individuums zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, welche sich bis zur leidenschaftlichen Liebe steigern kann, deren näherer Untersuchung ich ein eigenes Kapitel widmen werde: eben daher endlich die überschwängliche Liebe der Eltern zu ihrer Brut.
In den Ergänzungen zum zweiten Buch wurde der Wille der Wurzel, der Intellekt der Krone des Baumes verglichen: so ist es innerlich, oder psychologisch. Aeußerlich aber, oder physiologisch, sind die Genitalien die Wurzel, der Kopf die Krone. Das Ernährende sind zwar nicht die Genitalien, sondern die Zotten der Gedärme: dennoch sind nicht diese, sondern jene die Wurzel: weil durch sie das Individuum mit der Gattung zusammenhängt, in welcher es wurzelt. Denn es ist physisch ein Erzeugniß der Gattung, metaphysisch ein mehr oder minder unvollkommenes Bild der Idee , welche, in der Form der Zeit, sich als Gattung darstellt. In Uebereinstimmung mit dem hier ausgesprochenen Verhältniß ist die größte Vitalität, wie auch die Dekrepität, des Gehirns und der Genitalien gleichzeitig und steht in Verbindung. Der Geschlechtstrieb ist anzusehn als der innere Zug des Baumes (der Gattung), auf welchem das Leben des Individuums sproßt, wie ein Blatt, das vom Baume genährt wird und ihn zu nähren beiträgt: daher ist jener Trieb so stark und aus der Tiefe unserer Natur. Ein Individuum kastriren, heißt es vom Baum der Gattung, auf welchem es sproßt,
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