Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Menschengeschlecht verbreiteten und den Weisen, wie dem Volke einleuchtenden Glauben entgegensteht, ist das Judenthum, nebst den aus diesem entsprossenen zwei Religionen, sofern sie eine Schöpfung des Menschen aus Nichts lehren, an welche er dann den Glauben an eine endlose Fortdauer a parte post zu knüpfen die harte Aufgabe hat. Ihnen freilich ist es, mit Feuer und Schwerdt, gelungen, aus Europa und einem Theile Asiens jenen tröstlichen Urglauben der Menschheit zu verdrängen: es steht noch dahin auf wie lange. Wie schwer es jedoch gehalten hat, bezeugt die älteste Kirchengeschichte: die meisten Ketzer, z.B. Simonisten, Basilidianer, Valentinianer, Marcioniten, Gnostiker und Manichäer waren eben jenem Urglauben zugethan. Die Juden selbst sind zum Theil hineingerathen, wie Tertullian und Justinus (in seinen Dialogen) berichten. Im Talmud wird erzählt, daß Abel's Seele in den Leib des Seth und dann in den des Moses gewandert sei. Sogar die Bibelstelle, Matth. 16, 13-14, erhält einen vernünftigen Sinn nur dann, wann man sie als unter der Voraussetzung des Dogmas der Metempsychose gesprochen versteht. Lukas freilich, der sie (9, 18-20) auch hat, fügt hinzu hoti prophêtês tis tôn archaiôn anestê , schiebt also den Juden die Voraussetzung unter, daß so ein alter Prophet noch mit Haut und Haar wieder auferstehn könne, welches, da sie doch wissen, daß er schon 6 bis 700 Jahre im Grabe liegt, folglich längst zerstoben ist, eine handgreifliche Absurdität wäre. Im Christenthum ist übrigens an die Stelle der Seelenwanderung und der Abbüßung aller in einem früheren Leben begangenen Sünden durch dieselbe die Lehre von der Erbsünde getreten, d.h. von der Buße für die Sünde eines andern Individuums. Beide nämlich identificiren, und zwar mit moralischer Tendenz, den vorhandenen Menschen mit einem früher dagewesenen: die Seelenwanderung unmittelbar, die Erbsünde mittelbar. –
Der Tod ist die große Zurechtweisung, welche der Wille zum Leben, und näher der diesem wesentliche Egoismus, durch den Lauf der Natur erhält; und er kann aufgefaßt werden als eine Strafe für unser Daseyn A9 . Er ist die schmerzliche Lösung des Knotens, den die Zeugung mit Wollust geschürzt hatte, und die von außen eindringende, gewaltsame Zerstörung des Grundirrthums unsers Wesens: die große Enttäuschung. Wir sind im Grunde etwas, das nicht seyn sollte: darum hören wir auf zu seyn. – Der Egoismus besteht eigentlich darin, daß der Mensch alle Realität auf seine eigene Person beschränkt, indem er in dieser allein zu existiren wähnt, nicht in den andern. Der Tod belehrt ihn eines Bessern, indem er diese Person aufhebt, so daß das Wesen des Menschen, welches sein Wille ist, fortan nur in andern Individuen leben wird, sein Intellekt aber, als welcher selbst nur der Erscheinung, d.i. der Welt als Vorstellung, angehörte und bloß die Form der Außenwelt war, eben auch im Vorstellungseyn, d.h. im objektiven Seyn der Dinge als solchem , also ebenfalls nur im Daseyn der bisherigen Außenwelt, fortbesteht. Sein ganzes Ich lebt also von jetzt an nur in Dem, was er bisher als Nicht-Ich angesehn hatte: denn der Unterschied zwischen Aeußerem und Innerem hört auf. Wir erinnern uns hier, daß der bessere Mensch der ist, welcher zwischen sich und den Andern den wenigsten Unterschied macht, sie nicht als absolut Nicht-Ich betrachtet, während dem Schlechten dieser Unterschied groß, ja absolut ist; – wie ich dies in der Preisschrift über das Fundament der Moral ausgeführt habe. Diesem Unterschiede gemäß fällt, dem Obigen zufolge, der Grad aus, in welchem der Tod als die Vernichtung des Menschen angesehn werden kann. – Gehn wir aber davon aus, daß der Unterschied von Außer mir und In mir, als ein räumlicher, nur in der Erscheinung, nicht im Dinge an sich gegründet, also kein absolut realer ist; so werden wir in dem Verlieren der eigenen Individualität nur den Verlust einer Erscheinung sehn, also nur scheinbaren Verlust. So viel Realität jener Unterschied auch im empirischen Bewußtseyn hat; so sind doch, vom metaphysischen Standpunkt aus, die Sätze: »Ich gehe unter, aber die Welt dauert fort«, und »Die Welt geht unter, aber ich dauere fort«, im Grunde nicht eigentlich verschieden.
Ueber dies Alles nun aber ist der Tod die große Gelegenheit, nicht mehr Ich zu seyn: wohl Dem, der sie benutzt. Während des Lebens ist der Wille des Menschen ohne Freiheit: auf der Basis seines unveränderlichen Charakters
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