Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Zweckmäßigste zu dienen, wenn gleich auf Kosten des Individuums. Ueberall nämlich ist der Instinkt ein Wirken wie nach einem Zweckbegriff, und doch ganz ohne denselben. Die Natur pflanzt ihn da ein, wo das handelnde Individuum den Zweck zu verstehn unfähig, oder ihn zu verfolgen unwillig seyn würde: daher ist er, in der Regel, nur den Thieren, und zwar vorzüglich den untersten, als welche den wenigsten Verstand haben, beigegeben, aber fast allein in dem hier betrachteten Fall auch dem Menschen, als welcher den Zweck zwar verstehn könnte, ihn aber nicht mit dem nöthigen Eifer, nämlich sogar auf Kosten seines individuellen Wohls, verfolgen würde. Also nimmt hier, wie bei allem Instinkt, die Wahrheit die Gestalt des Wahnes an, um auf den Willen zu wirken. Ein wollüstiger Wahn ist es, der dem Manne vorgaukelt, er werde in den Armen eines Weibes von der ihm zusagenden Schönheit einen größern Genuß finden, als in denen eines jeden andern; oder der gar, ausschließlich auf ein einziges Individuum gerichtet, ihn fest überzeugt, daß dessen Besitz ihm ein überschwängliches Glück gewähren werde. Demnach wähnt er, für seinen eigenen Genuß Mühe und Opfer zu verwenden, während es bloß für die Erhaltung des regelrechten Typus der Gattung geschieht, oder gar eine ganz bestimmte Individualität, die nur von diesen Eltern kommen kann, zum Daseyn gelangen soll. So völlig ist hier der Charakter des Instinkts, also ein Handeln wie nach einem Zweckbegriff und doch ganz ohne denselben, vorhanden, daß der von jenem Wahn Getriebene den Zweck, welcher allein ihn leitet, die Zeugung, oft sogar verabscheut und verhindern möchte: nämlich bei fast allen unehelichen Liebschaften. Dem dargelegten Charakter der Sache gemäß wird, nach dem endlich erlangten Genuß, jeder Verliebte eine wundersame Enttäuschung erfahren, und darüber erstaunen, daß das so sehnsuchtsvoll Begehrte nichts mehr leistet, als jede andere Geschlechtsbefriedigung; so daß er sich nicht sehr dadurch gefördert sieht. Jener Wunsch nämlich verhielt sich zu allen seinen übrigen Wünschen, wie sich die Gattung verhält zum Individuo, also wie ein Unendliches zu einem Endlichen. Die Befriedigung hingegen kommt eigentlich nur der Gattung zu Gute und fällt deshalb nicht in das Bewußtseyn des Individuums, welches hier, vom Willen der Gattung beseelt, mit jeglicher Aufopferung, einem Zwecke diente, der gar nicht sein eigener war. Daher also findet jeder Verliebte, nach endlicher Vollbringung des großen Werkes, sich angeführt: denn der Wahn ist verschwunden, mittelst dessen hier das Individuum der Betrogene der Gattung war. Demgemäß sagt Plato sehr treffend: hêdonê hapantôn alazonestaton (voluptas omnium maxime vaniloqua) . Phileb 319.
Dies Alles aber wirft seinerseits wieder Licht zurück auf die Instinkte und Kunsttriebe der Thiere. Ohne Zweifel sind auch diese von einer Art Wahn, der ihnen den eigenen Genuß vorgaukelt, befangen, während sie so emsig und mit Selbstverleugnung für die Gattung arbeiten, der Vogel sein Nest baut, das Insekt den allein passenden Ort für die Eier sucht, oder gar Jagd auf Raub macht, der, ihm selber ungenießbar, als Futter für die künftigen Larven neben die Eier gelegt werden muß, die Biene, die Wespe, die Ameise ihrem künstlichen Bau und ihrer höchst komplicirten Oekonomie obliegen. Sie Alle leitet sicherlich ein Wahn, welcher dem Dienste der Gattung die Maske eines egoistischen Zweckes vorsteckt. Um uns den innern oder subjektiven Vorgang, der den Aeußerungen des Instinkts zum Grunde liegt, faßlich zu machen, ist dies wahrscheinlich der einzige Weg. Aeußerlich aber, oder objektiv, stellt sich uns, bei den vom Instinkt stark beherrschten Thieren, namentlich den Insekten, ein Ueberwiegen des Ganglien- d.i. des subjektiven Nervensystems über das objektive oder Cerebral-System dar; woraus zu schließen ist, daß sie nicht sowohl von der objektiven, richtigen Auffassung, als von subjektiven, Wunsch erregenden Vorstellungen, welche durch die Einwirkung des Gangliensystems auf das Gehirn entstehn, und demzufolge von einem gewissen Wahn getrieben werden: und dies wird der physiologische Hergang bei allem Instinkt seyn. – Zur Erläuterung erwähne ich noch, als ein anderes, wiewohl schwächeres Beispiel vom Instinkt im Menschen, den kapriziösen Appetit der Schwangeren: er scheint daraus zu entspringen, daß die Ernährung des Embryo bisweilen eine besondere oder bestimmte Modifikation des ihm
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