Die Welt von Gestern
wofür, war man leicht exaltiert, es lag an der Atmosphäre, der unruhigen und neuen; vielleicht wuchs einem schon eine russische Seele zu.
Vieles war großartig, Leningrad vor allem, diese genial von verwegenen Fürsten konzipierte Stadt mit ihren breiten Prospekten, ihren mächtigen Palästen – und doch auch zugleich noch das bedrückende Petersburg der ›Weißen Nächte‹ und des Raskolnikow. Imposant die Eremitage und unvergeßlicher Anblick darin, wie in Scharen, den Hut ehrfürchtig in der Hand wie ehemals vor ihren Ikonen, die Arbeiter, die Soldaten, die Bauern mit ihren schweren Schuhen durch die einst kaiserlichen Säle gingen und die Bilder mit dem geheimen Stolz anschauten: das gehört jetzt uns, und wir werden lernen, solche Dinge zu verstehen. Lehrer führten rundbäckige Kinder durch die Säle, Kunstkommissare erklärten den etwas befangen zuhörenden Bauern Rembrandt und Tizian; immer hoben sie, wenn
auf Einzelheiten gezeigt wurde, scheu die Augen unter den schweren Lidern. Auch hier wie überall war eine kleine Lächerlichkeit in diesem reinen und redlichen Bemühen, über Nacht das ›Volk‹ vom Analphabetismus gleich zum Verständnis Beethovens und Vermeers emporzureißen, aber diese Bemühung, die höchsten Werte einerseits auf den ersten Anhieb verständlich zu machen, andererseits zu verstehen, war auf beiden Seiten gleich ungeduldig. In den Schulen ließ man Kinder die wildesten, die extravagantesten Dinge malen, auf den Bänken zwölfjähriger Mädchen lagen Hegels Werke und Sorel (den ich damals selbst noch nicht kannte), Kutscher, die noch nicht recht lesen konnten, hielten Bücher in der Hand, nur weil es Bücher waren und Bücher ›Bildung‹ bedeuteten, also Ehre, Pflicht des neuen Proletariats. Ach, wie oft mußten wir lächeln, wenn man uns mittlere Fabriken zeigte und ein Staunen erwartete, als ob wir derlei noch nie in Europa und Amerika gesehen; »elektrisch«, sagte mir ganz stolz ein Arbeiter, auf eine Nähmaschine deutend, und blickte mich erwartungsvoll an, ich sollte in Bewunderung ausbrechen. Weil das Volk all diese technischen Dinge zum erstenmal sah, glaubte es demütig, die Revolution und Väterchen Lenin und Trotzkij hätten dies alles erdacht und erfunden. So lächelte man in Bewunderung und bewunderte, während man sich heimlich amüsierte; welch ein wunderbares begabtes und gütiges großes Kind, dieses Rußland, dachte man immer und fragte sich: wird es wirklich die ungeheure Lektion so rasch lernen, wie es sich vorgenommen? Wird dieser Plan noch weiter sich großartig entfalten oder in der alten russischen Oblomowerei versanden? In der einen Stunde hatte man Zuversicht, in der andern Mißtrauen. Je mehr ich sah, desto weniger wurde ich mir klar.
Aber lag das Zwiespältige an mir, lag es nicht vielmehr im russischen Wesen begründet, lag es nicht sogar in Tolstois See
le, den wir zu feiern gekommen waren? Auf der Bahnfahrt nach Jasnaja Poljana sprach ich darüber mit Lunatscharskij. »Was war er eigentlich«, sagte mir Lunatscharskij, »ein Revolutionär oder ein Reaktionär? Hat er es selbst gewußt? Als richtiger Russe wollte er alles zu rasch, nach Tausenden von Jahren die ganze Welt ändern in einem Handumdrehen. – Ganz wie wir«, fügte er lächelnd bei, »und mit einer einzigen Formel genau wie wir. Man sieht uns falsch, uns Russen, wenn man uns geduldig nennt. Wir sind geduldig mit unseren Körpern und sogar mit unserer Seele. Aber mit unserem Denken sind wir ungeduldiger als jedes andere Volk, wir wollen alle Wahrheiten, ›die‹ Wahrheit immer sofort wissen. Und wie hat er sich gequält darum, der alte Mann.« Und wirklich, als ich durch Tolstois Haus in Jasnaja Poljana ging, fühlte ich nur immer dies ›wie hat er sich gequält, der große alte Mann‹. Da war der Schreibtisch, an dem er seine unvergänglichen Werke geschrieben, und er hatte ihn verlassen, um nebenan in einem ärmlichen Gemach Schuhe zu schustern, schlechte Schuhe. Da war die Tür, da war die Treppe, durch die er diesem Haus, durch die er dem Zwiespalt seiner Existenz hatte entflüchten wollen. Da war die Flinte, mit der er im Kriege Feinde getötet, der er doch Feind alles Krieges war. Die ganze Frage seiner Existenz stand stark und sinnlich vor mir in diesem niederen weißen Gutshause, aber wunderbar war dies Tragische dann gelindert durch den Gang an seine letzte Ruhestätte.
Denn nichts Großartigeres, nichts Ergreifenderes habe ich in Rußland gesehen als Tolstois Grab.
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