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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Abseits und allein liegt dieser erlauchte Pilgerort, eingebettet im Wald. Ein schmaler Fußpfad führt hin zu diesem Hügel, der nichts ist als ein gehäuftes Rechteck Erde, von niemandem bewacht, von niemandem gehütet, nur von ein paar großen Bäumen beschattet. Diese hochragenden Bäume hat, so erzählte mir seine Enkelin vor
dem Grab, Leo Tolstoi selbst gepflanzt. Sein Bruder Nicolai und er hatten als Knaben von irgendeiner Dorffrau die Sage gehört, wo man Bäume pflanze, werde ein Ort des Glückes sein. So hatten sie halb im Spiel ein paar Schößlinge eingesetzt. Erst später entsann sich der alte Mann dieser wunderbaren Verheißung und äußerte sofort den Wunsch, unter jenen selbstgepflanzten Bäumen begraben zu werden. Das ist geschehen, ganz nach seinem Willen, und es ward das eindrucksvollste Grab der Welt durch seine herzbezwingende Schlichtheit. Ein kleiner rechteckiger Hügel mitten im Wald von Bäumen überblüht – nulla crux, nulla corona! kein Kreuz, kein Grabstein, keine Inschrift. Namenlos ist der große Mann begraben, der wie kein anderer an seinem Namen und seinem Ruhm litt, genau wie ein zufällig aufgefundener Landstreicher, wie ein unbekannter Soldat. Niemandem bleibt es verwehrt, an seine letzte Ruhestätte zu treten; der dünne Bretterzaun ringsherum ist nicht verschlossen. Nichts behütet die letzte Ruhe des Ruhelosen als die Ehrfurcht der Menschen. Während sich sonst Neugier um den Prunk eines Grabes drängt, bannt hier die zwingende Einfachheit jede Schaulust. Wind rauscht wie Gottes Wort über das Grab des Namenlosen, sonst keine Stimme, man könnte daran vorbeigehen, ohne mehr zu wissen, als daß hier irgendeiner begraben liegt, irgendein russischer Mensch in der russischen Erde. Nicht Napoleons Krypta unter dem Marmorbogen des Invalidendomes, nicht Goethes Sarg in der Fürstengruft, nicht jene Grabmäler in der Westminsterabtei erschüttern durch ihren Anblick so sehr wie dies herrlich schweigende, rührend namenlose Grab irgendwo im Walde, nur vom Wind umflüstert und selbst ohne Botschaft und Wort.

    Vierzehn Tage war ich in Rußland gewesen, und noch immer empfand ich diese innerliche Gespanntheit, diesen Nebel leich
ter geistiger Berauschtheit. Was war es eigentlich, das einen so erregte? Bald erkannte ich's: es waren die Menschen und die impulsive Herzlichkeit, die von ihnen ausströmte. Alle vom ersten bis zum letzten waren überzeugt, daß sie an einer ungeheuren Sache beteiligt waren, welche die ganze Menschheit betraf, alle davon durchdrungen, daß, was sie an Entbehrungen und Einschränkungen auf sich nehmen mußten, um einer höheren Mission willen geschah. Das alte Minderwertigkeitsgefühl gegenüber Europa war umgeschlagen in einen trunkenen Stolz, vorauszusein, allen voraus. ›Ex oriente lux‹ – von ihnen kam das Heil; so meinten sie ehrlich und redlich. ›Die‹ Wahrheit, sie hatten sie erkannt; ihnen war gegeben, zu erfüllen, was die andern nur träumten. Wenn sie das Nichtigste einem zeigten, so strahlten ihre Augen: »Das haben wir gemacht.« Und dieses ›Wir‹ ging durch das ganze Volk. Der Kutscher, der einen fuhr, wies mit der Peitsche auf irgendein neues Haus, ein Lachen machte die Wangen breit: »Wir haben das gebaut.« Die Tataren, die Mongolen in den Studentenräumen kamen auf einen zu, zeigten einem voll Stolz ihre Bücher: »Darwin!« sagte der eine, »Marx!« der andere, genau so stolz, als hätten sie selbst die Bücher geschrieben. Unablässig drängten sie sich, einem zu zeigen, zu erklären, sie waren so dankbar, daß jemand gekommen war, ›ihr‹ Werk zu sehen. Jeder hatte – Jahre vor Stalin! – zu einem Europäer grenzenloses Vertrauen, mit guten treuen Augen blickten sie zu einem auf und schüttelten einem kräftig und brüderlich die Hand. Aber gerade die Geringsten zeigten zugleich, daß sie einen zwar liebten, aber nicht etwa ›Respekt‹ hatten – man war doch Bruder, Towarisch, war Kamerad. Auch bei den Schriftstellern war es nicht anders. Wir saßen im Hause zusammen, das vormals Alexander Herzen gehört hatte, nicht nur Europäer und Russen, sondern Tungusen und Georgier und Kaukasier, jeder Sowjetstaat hatte für Tol
stoi seinen Delegierten gesandt. Man konnte sich mit den meisten nicht verständigen, aber man verstand sich doch. Manchmal stand einer auf, kam auf einen zu, nannte den Titel eines Buches, das man geschrieben, deutete auf sein Herz, um zu sagen »ich liebe es sehr«, dann packte er einen bei der Hand und

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