Die Welt von Gestern
Jugend zurück; ebenso ging ich, wenn ich arbeiten wollte, an die absurdesten Orte, in kleine Provinzorte wie Boulogne oder Tirano oder Dijon; es war wundervoll, unbekannt zu sein, in den kleinen Hotels zu wohnen nach den widerlich luxuriösen, bald vor, bald zurück zu treten, Licht und Schatten nach eigener Willkür zu verteilen. Und so viel Hitler
mir später genommen, das gute Bewußtsein, doch noch ein Jahrzehnt nach eigenem Willen und mit innerster Freiheit europäisch gelebt zu haben, dies allein vermochte selbst er mir weder zu konfiszieren noch zu verstören.
Von jenen Reisen war eine für mich besonders erregend und belehrend: eine Reise in das neue Rußland. 1914, knapp vor dem Kriege, als ich an meinem Buch über Dostojewskij arbeitete, hatte ich diese Reise schon vorbereitet; damals war die blutige Sense des Krieges dazwischengefahren, und seitdem hielt mich ein Bedenken zurück. Rußland war durch das bolschewistische Experiment für alle geistigen Menschen das faszinierendste Land des Nachkrieges geworden, ohne genaue Kenntnis gleich enthusiastisch bewundert wie fanatisch befeindet. Niemand wußte zuverlässig – dank der Propaganda und gleich rabiaten Gegenpropaganda –, was dort geschah. Aber man wußte, daß dort etwas ganz Neues versucht wurde, etwas, das im Guten oder im Bösen bestimmend sein könnte für die zukünftige Form unserer Welt. Shaw, Wells, Barbusse, Istrati, Gide und viele andere waren hinübergefahren, die einen als Enthusiasten, die anderen als Enttäuschte zurückkehrend, und ich wäre kein geistig verbundener, dem Neuen zugewandter Mensch gewesen, hätte es mich nicht gleichfalls verlockt, aus eigenem Augenschein mir ein Bild zu formen. Meine Bücher waren dort ungemein verbreitet, nicht nur die Gesamtausgabe mit Maxim Gorkijs Einleitung, sondern auch kleine billige Ausgaben für ein paar Kopeken, die bis in die breitesten Massen drangen; ich konnte also guten Empfanges gewiß sein. Aber was mich hinderte, war, daß jede Reise nach Rußland damals schon im vorhinein eine Art Parteinahme bedeutete und zu öffentlichem Bekenntnis oder öffentlicher Verneinung zwang, indes ich, der das Politische und Dogmatische im tiefsten verabscheute, nicht
nach ein paar Wochen Überblicks über ein unabsehbares Land und ein noch ungelöstes Problem mir ein Urteil aufzwingen lassen wollte. So konnte ich mich trotz meiner brennenden Neugier nie entschließen, nach Sowjetrußland zu reisen.
Da gelangte im Frühsommer 1928 eine Einladung an mich, als Delegierter der österreichischen Schriftsteller an der Feier des hundertsten Geburtstages Leo Tolstois in Moskau teilzunehmen, um dort am Festabend das Wort zu seinen Ehren zu ergreifen. Einem solchen Anlaß auszuweichen, hatte ich keinen Grund, denn durch den überparteilichen Gegenstand war mein Besuch dem Politischen entrückt. Tolstoi als der Apostel der non-violence war nicht als Bolschewist zu deuten, und über ihn als Dichter zu sprechen stand mir ein offenkundiges Recht zu, da mein Buch über ihn in vielen Tausenden Exemplaren verbreitet war; auch schien es mir im europäischen Sinne eine bedeutsame Demonstration, wenn sich die Schriftsteller aller Länder vereinten, um dem Größten unter ihnen eine gemeinsame Huldigung darzubringen. Ich sagte also zu und hatte meinen raschen Entschluß nicht zu bereuen. Schon die Fahrt durch Polen war ein Erlebnis. Ich sah, wie schnell unsere Zeit Wunden zu heilen vermag, die sie sich selber schlägt. Dieselben Städte Galiziens, die ich 1915 in Trümmern gekannt, standen blank und neu; wieder erkannte ich, daß zehn Jahre, die im Leben eines einzigen Menschen ein breites Stück seiner Existenz bedeuten, nur ein Wimpernschlag sind im Leben eines Volkes. In Warschau war keine Spur zu entdecken, daß hier zweimal, dreimal, viermal siegreiche und besiegte Armeen durchgeflutet. Die Cafés glänzten mit eleganten Frauen. Die Offiziere, die tailliert und schlank durch die Straßen promenierten, wirkten eher wie meisterhafte Hofschauspieler, die Soldaten darstellen. Überall war Rührigkeit, Vertrauen und ein berechtigter Stolz zu spüren, daß die neue Republik Polen sich so
stark aus dem Schutt der Jahrhunderte erhob. Von Warschau ging es weiter der russischen Grenze zu. Flacher und sandiger wurde das Land; an jeder Station stand die ganze Bevölkerung des Dorfes in bunten ländlichen Trachten, denn nur ein einziger Personenzug am Tage ging damals hinüber in das verbotene und verschlossene Land, und es war
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