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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Nerv, mit welchem Griff und bei welchem Rad des Autos und an welchem Platz er aufzuspringen hatte, um nicht dem Nächsten in den Weg zu kommen und dadurch das Ganze zu gefährden. Es war keineswegs persönliche Geschicklichkeit, sondern jeder dieser Handgriffe mußte dutzende und vielleicht hunderte Male im voraus in Kasernen und auf Exerzierplätzen geübt worden sein. Von Anfang an – das zeigte dieser erste Blick – war diese Truppe auf Angriff, Gewalt und Terror geschult.
    Bald hörte man mehr von diesen unterirdischen Manövern im bayrischen Land. Wenn alles schlief, schlichen die jungen Burschen aus den Häusern und versammelten sich zu nächtlichen ›Geländeübungen‹; Offiziere der Reichswehr in oder au
ßer Dienst, vom Staat oder den geheimnisvollen Geldgebern der Partei bezahlt, drillten diese Trupps ein, ohne daß die Behörden für diese seltsamen Nachtmanöver viel Aufmerksamkeit zeigten. Schliefen sie wirklich oder drückten sie nur die Augen zu? Hielten sie die Bewegung für gleichgültig oder förderten sie sogar heimlich ihre Ausbreitung? Jedenfalls wurden selbst die, welche die Bewegung unterirdisch stützten, dann erschreckt durch die Brutalität und Raschheit, mit der sie plötzlich auf die Beine sprang. Eines Morgens wachten die Behörden auf, und München war in Hitlers Hand, alle Amtsstellen besetzt, die Zeitungen mit dem Revolver gezwungen, die vollzogene Revolution triumphierend anzukündigen. Wie aus den Wolken, zu denen die ahnungslose Republik bloß träumerisch emporgeblickt, erschien der deus ex machina, General Ludendorff, dieser erste von vielen, die glaubten, Hitler überspielen zu können, und die statt dessen von ihm genarrt wurden. Vormittags begann der berühmte Putsch, der Deutschland erobern sollte, mittags (ich habe hier nicht Weltgeschichte zu erzählen) war er bekanntlich bereits zu Ende. Hitler flüchtete und wurde bald verhaftet; damit schien die Bewegung erloschen. In diesem Jahr 1923 verschwanden die Hakenkreuze, die Sturmtrupps, und der Name Adolf Hitlers fiel beinahe in Vergessenheit zurück. Niemand dachte mehr an ihn als einen möglichen Machtfaktor.
    Erst nach ein paar Jahren tauchte er wieder auf, und nun trug ihn die aufbrausende Welle der Unzufriedenheit rasch hoch. Die Inflation, die Arbeitslosigkeit, die politischen Krisen und nicht zum mindesten die Torheit des Auslands hatten das deutsche Volk aufgewühlt; ein ungeheures Verlangen nach Ordnung war in allen Kreisen des deutschen Volkes, dem Ordnung von je mehr galt als Freiheit und Recht. Und wer Ordnung versprach – selbst Goethe hat gesagt, daß Unordnung
ihm unlieber wäre als selbst eine Ungerechtigkeit –, der hatte von Anbeginn Hunderttausende hinter sich.
    Aber wir merkten noch immer nicht die Gefahr. Die wenigen unter den Schriftstellern, die sich wirklich die Mühe genommen hatten, Hitlers Buch zu lesen, spotteten, anstatt sich mit seinem Programm zu befassen, über die Schwülstigkeit seiner papiernen Prosa. Die großen demokratischen Zeitungen – statt zu warnen – beruhigten tagtäglich von neuem ihre Leser, die Bewegung, die wirklich nur mühsam mit den Geldern der Schwerindustrie und verwegener Schuldenmacherei ihre enorme Agitation finanzierte, müsse unvermeidlich morgen oder übermorgen zusammenbrechen. Aber vielleicht ist im Ausland nie der eigentliche Grund verständlich gewesen, warum Deutschland die Person und die steigende Macht Hitlers in all diesen Jahren dermaßen unterschätzte und bagatellisierte: Deutschland ist nicht nur immer ein Klassenstaat gewesen, sondern innerhalb dieses Klassenideals außerdem noch mit einer unerschütterlichen Überschätzung und Vergötterung der ›Bildung‹ belastet. Abgesehen von einigen Generälen blieben dort die hohen Stellen im Staat ausschließlich den sogenannten ›akademisch Gebildeten‹ vorbehalten; während in England ein Lloyd George, in Italien ein Garibaldi und Mussolini, in Frankreich ein Briand wirklich aus dem Volke zu den höchsten Staatsmännern aufgestiegen waren, galt es für den Deutschen als undenkbar, daß ein Mann, der nicht einmal die Bürgerschule zu Ende besucht, geschweige denn eine Hochschule absolviert, daß jemand, der in Männerheimen übernachtet und auf heute noch nicht aufgeklärte Weise jahrelang ein dunkles Leben gefristet, je einer Stellung sich auch nur nähern könnte, die ein Freiherr vom Stein, ein Bismarck, ein Fürst Bülow innegehabt. Nichts so sehr als dieser Bildungshochmut hat die deutschen

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