Die Welt von Gestern
einigen wenigen Wochen. Verankert in unseren Anschauungen des Rechts, glaubten wir an die Existenz eines deutschen, eines europäischen, eines Weltgewissens und waren überzeugt, es gebe ein Maß von Unmenschlichkeit, das sich selbst ein für allemal vor der Menschheit erledige. Da ich versuche, hier so ehrlich als möglich zu bleiben, muß ich bekennen, daß wir alle 1933 und noch 1934 in Deutschland und Österreich jedesmal nicht ein Hundertstel, nicht ein Tausendstel dessen für möglich gehalten haben, was dann immer wenige Wochen später hereinbrechen sollte. Allerdings: daß wir freien und unabhängigen Schriftsteller gewisse Schwierigkeiten, Unannehmlichkeiten, Feindseligkeiten zu erwarten hätten, war von vorneweg klar. Sofort nach dem Reichstagsbrand sagte ich meinem Verleger, es werde nun bald vorbei sein mit meinen Büchern in Deutschland. Ich werde seine Verblüffung nicht vergessen. »Wer sollte Ihre Bücher verbieten?« sagte er damals, 1933, noch ganz erstaunt. »Sie haben doch nie ein Wort gegen Deutschland geschrieben oder sich in Politik eingemengt.« Man sieht: all die Ungeheuerlichkeiten, wie Bücherverbrennungen und Schandpfahlfeste, die wenige Monate später schon Fakten sein sollten, waren einen Monat nach Hitlers Macht
ergreifung selbst für weitdenkende Leute noch jenseits aller Faßbarkeit. Denn der Nationalsozialismus in seiner skrupellosen Täuschertechnik hütete sich, die ganze Radikalität seiner Ziele zu zeigen, ehe man die Welt abgehärtet hatte. So übten sie vorsichtig ihre Methode: immer nur eine Dosis und nach der Dosis eine kleine Pause. Immer nur eine einzelne Pille und dann einen Augenblick Abwartens, ob sie nicht zu stark gewesen, ob das Weltgewissen diese Dosis noch vertrage. Und da das europäische Gewissen – zum Schaden und zur Schmach unserer Zivilisation – eifrigst seine Unbeteiligtheit betonte, weil diese Gewalttaten doch ›jenseits der Grenze‹ vor sich gingen, wurden die Dosen immer kräftiger, bis schließlich ganz Europa an ihnen zugrunde ging. Nichts Genialeres hat Hitler geleistet als diese Taktik des langsamen Vorfühlens und immer stärkeren Steigerns gegen ein moralisch und bald auch militärisch immer schwächer werdendes Europa. Auch die innerlich längst beschlossene Aktion zur Vernichtung jedes freien Wortes und jedes unabhängigen Buches in Deutschland erfolgte nach jener vortastenden Methode. Es wurde nicht etwa gleich ein Gesetz erlassen – das kam erst zwei Jahre später –, das unsere Bücher glatt verbot; man veranstaltete statt dessen zunächst nur eine leise Tastprobe, wie weit man gehen könne, indem man die erste Attacke auf unsere Bücher einer offiziell unverantwortlichen Gruppe zuschob, den nationalsozialistischen Studenten. Nach dem gleichen System, mit dem man ›Volkszorn‹ inszenierte, um den längst beschlossenen Judenboykott durchzusetzen, gab man ein geheimes Stichwort an die Studenten, ihre ›Empörung‹ gegen unsere Bücher öffentlich zur Schau zu stellen. Und die deutschen Studenten, froh jeder Gelegenheit, reaktionäre Gesinnung bekunden zu können, rotteten sich folgsam an jeder Universität zusammen, holten Exemplare unserer Bücher aus den Buchhandlungen und marschierten
unter wehenden Fahnen mit dieser Beute auf einen öffentlichen Platz. Dort wurden die Bücher entweder nach altem deutschen Brauch – Mittelalter war mit einemmal Trumpf geworden – an den Schandpfahl, an den öffentlichen Pranger genagelt – ich habe selbst ein solches mit einem Nagel durchbohrtes Exemplar eines meiner Bücher besessen, das ein befreundeter Student nach der Exekution gerettet und mir zum Geschenk gemacht –, oder sie wurden, da es leider nicht erlaubt war, Menschen zu verbrennen, auf großen Scheiterhaufen unter Rezitierung patriotischer Sprüche zu Asche verbrannt. Zwar hatte nach langem Zögern der Propagandaminister Goebbels im letzten Augenblick beschlossen, der Bücherverbrennung seinen Segen zu geben, aber sie blieb noch immer eine halboffizielle Maßnahme, und nichts zeigt deutlicher, wie wenig sich Deutschland damals noch mit solchen Akten identifizierte, als daß das Publikum aus diesen studentischen Verbrennungen und Ächtungen nicht die geringsten Konsequenzen zog. Obwohl die Buchhändler ermahnt wurden, keines unserer Bücher in die Auslage zu legen und obwohl keine Zeitung mehr ihrer Erwähnung tat, ließ sich das wirkliche Publikum nicht im mindesten beeinflussen. Solange noch nicht Zuchthaus oder Konzentrationslager
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