Die Welt von Gestern
Intellektuellen verleitet, in Hitler noch den Bierstu
benagitator zu sehen, der nie ernstlich gefährlich werden könnte, als er längst schon dank seiner unsichtbaren Drahtzieher sich mächtige Helfer in den verschiedensten Kreisen gewonnen. Und selbst als er an jenem Januartag 1933 Kanzler geworden war, betrachteten die große Menge und sogar diejenigen, die ihn an diesen Posten geschoben, ihn nur als provisorischen Platzhalter und die nationalsozialistische Herrschaft als Episode.
Damals offenbarte sich die zynisch geniale Technik Hitlers zum erstenmal in großem Stil. Er hatte seit Jahren nach allen Seiten hin Versprechungen gemacht und bei allen Parteien wichtige Exponenten gewonnen, von denen jeder meinte, sich der mystischen Kräfte des ›unbekannten Soldaten‹ für seine Zwecke bedienen zu können. Aber dieselbe Technik, die Hitler später in der großen Politik geübt, Bündnisse mit Eid und deutscher Treuherzigkeit gerade mit jenen zu schließen, die er vernichten und ausrotten wollte, feierte ihren ersten Triumph. So vollkommen wußte er nach allen Seiten hin durch Versprechungen zu täuschen, daß am Tage, da er zur Macht kam, Jubel in den allergegensätzlichsten Lagern herrschte. Die Monarchisten in Doorn meinten, er sei des Kaisers getreuester Wegbereiter, aber ebenso frohlockten die bayrischen, die wittelsbachischen Monarchisten in München; auch sie hielten ihn für ›ihren‹ Mann. Die Deutschnationalen hofften, er werde ihnen das Holz kleinschlagen, das ihre Öfen heizen sollte; ihr Führer Hugenberg hatte sich vertraglich den wichtigsten Platz gesichert in Hitlers Kabinett und glaubte damit den Fuß im Steigbügel zu haben – natürlich flog er trotz beschworener Vereinbarung nach den ersten Wochen hinaus. Die Schwerindustrie fühlte durch Hitler sich von der Bolschewistenangst entlastet, sie sah den Mann an der Macht, den sie seit Jahren im geheimen finanziert; und gleichzeitig atmete das verarmte Kleinbür
gertum, dem er in hundert Versammlungen die ›Brechung der Zinsknechtschaft‹ versprochen hatte, begeistert auf. Die kleinen Händler erinnerten sich an die Zusage der Schließung der großen Warenhäuser, ihrer gefährlichsten Konkurrenz (eine Zusage, die nie erfüllt wurde), und insbesondere dem Militär war Hitler willkommen, weil er militaristisch dachte und den Pazifismus beschimpfte. Sogar die Sozialdemokraten sahen seinen Aufstieg nicht so unfreundlich an, wie man hätte erwarten sollen, weil sie hofften, daß er ihre Erzfeinde, die hinter ihnen so unangenehm drängenden Kommunisten, abtun würde. Die verschiedensten, die gegensätzlichsten Parteien betrachteten diesen ›unbekannten Soldaten‹, der jedem Stand, jeder Partei, jeder Richtung alles versprochen und beschworen hatte, als ihren Freund – sogar die deutschen Juden waren nicht sehr beunruhigt. Sie machten sich vor, ein ›ministre Jacobin‹ sei kein Jakobiner mehr, ein Kanzler des Deutschen Reiches werde die Vulgaritäten eines antisemitischen Agitators selbstverständlich abtun. Und schließlich, was konnte er Gewalttätiges durchsetzen in einem Staate, wo das Recht fest verankert war, wo im Parlament die Majorität gegen ihn stand und jeder Staatsbürger seine Freiheit und Gleichberechtigung nach der feierlich beschworenen Verfassung gesichert meinte?
Dann kam der Reichstagsbrand, das Parlament verschwand, Göring ließ seine Rotten los, mit einem Hieb war alles Recht in Deutschland zerschlagen. Schaudernd vernahm man, daß es mitten im Frieden Konzentrationslager gab und daß in die Kasernen geheime Gelasse eingebaut wurden, in denen man unschuldige Menschen ohne Gericht und Formalität erledigte. Das konnte nur ein Ausbruch erster sinnloser Wut sein, sagte man sich. Derlei kann nicht dauern im zwanzigsten Jahrhundert. Aber es war erst der Anbeginn. Die Welt horchte auf und weigerte sich zunächst, das Unglaubhafte zu glauben. Aber
schon in jenen Tagen sah ich die ersten Flüchtlinge. Sie waren nachts über die Salzburger Berge geklettert oder durch den Grenzfluß geschwommen. Ausgehungert, abgerissen, verstört starrten sie einen an; mit ihnen hatte die panische Flucht vor der Unmenschlichkeit begonnen, die dann über die ganze Erde ging. Aber noch ahnte ich nicht, als ich diese Ausgetriebenen sah, daß ihre blassen Gesichter schon mein eigenes Schicksal kündeten und daß wir alle Opfer sein würden der Machtwut dieses einen Mannes.
Man kann dreißig oder vierzig Jahre inneren Weltglaubens schwer abtun in
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