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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Umwegen einwirkenden – Sphäre uns zum Ideal friedlicher Verständigung und geistiger Verbrüderung über die Sprachen und Länder hinweg bekannten. Und gerade die neue Generation war es, die am stärksten dieser europäischen Idee anhing. In Paris fand ich um meinen Freund Bazalgette eine Gruppe junger Menschen geschart, die im Gegensatz zur früheren Generation jedem engen Nationalismus und aggressiven Imperialismus Absage geleistet hatten. Jules Romains, der dann das große Gedicht an Europa im Kriege schrieb, Georges Duhamel, Charles Vildrac, Durtain, René Arcos, Jean Richard Bloch, zusammengeschlossen erst in der ›Abbaye‹, dann im ›Effort libre‹, waren passionierte Vorkämpfer eines kommenden Europäertums und unerschütterlich, wie es die Feuerprobe des Krieges gezeigt hat, in ihrem Abscheu gegen jeden Militarismus – eine Jugend, wie sie tapferer, begabter, moralisch entschlossener Frankreich nur selten gezeugt hatte. In Deutschland war es Werfel mit seinem ›Weltfreund‹, der der Weltverbrüderung die stärksten lyrischen Akzente gab, René Schickele, als Elsässer schicksalhaft zwischen die beiden Nationen gestellt, arbeitete leidenschaftlich für eine Verständigung, von Italien grüßte uns G. A. Borgese als Kamerad, aus den skandinavischen, den slawischen Ländern kam Ermutigung. »Kommt doch einmal zu uns!« schrieb mir ein großer russischer Schriftsteller. »Zeigt den Panslawisten, die uns in den Krieg hetzen wollen, daß Ihr in Österreich ihn nicht wollt.« Ach, wir liebten alle unsere Zeit, die uns auf ihren Flügeln trug, wir liebten Europa! Aber dieser vertrauensselige Glaube an die Vernunft, daß sie den Irrwitz in letzter Stunde verhindern würde, war zugleich unsere einzige Schuld. Gewiß, wir haben die Zeichen an der Wand nicht mit genug Mißtrauen betrachtet, aber ist es nicht Sinn einer richtigen Jugend, nicht mißtrauisch, sondern gläubig zu sein? Wir vertrau
ten auf Jaurès, auf die sozialistische Internationale, wir glaubten, die Eisenbahner würden eher die Schienen sprengen als ihre Kameraden als Schlachtvieh an die Front verladen lassen, wir zählten auf die Frauen, die ihre Kinder, ihre Gatten dem Moloch verweigern würden, wir waren überzeugt, daß die geistige, die moralische Kraft Europas sich triumphierend bekunden würde im letzten kritischen Augenblick. Unser gemeinsamer Idealismus, unser im Fortschritt bedingter Optimismus ließ uns die gemeinsame Gefahr verkennen und verachten.
    Und dann: was uns fehlte, war ein Organisator, der die in uns latenten Kräfte zielbewußt zusammenfaßte. Wir hatten nur einen einzigen Mahner unter uns, einen einzigen weit vorausblickenden Erkenner; doch das Merkwürdigste war, daß er mitten unter uns lebte und wir von ihm lange nichts wußten, von diesem uns vom Schicksal als Führer eingesetzten Mann. Für mich war es einer der entscheidenden Glücksfälle, daß ich ihn mir noch in letzter Stunde entdeckte, und es war schwer, ihn zu entdecken, denn er lebte inmitten von Paris abseits von der ›foire sur la place‹. Wenn jemand einmal eine redliche Geschichte der französischen Literatur im zwanzigsten Jahrhundert zu schreiben unternimmt, wird er das erstaunliche Phänomen nicht außer acht lassen dürfen, daß man allen denkbaren Dichtern und Namen damals in den Pariser Zeitungen lobhudelte, gerade aber die der drei Wesentlichsten nicht kannte oder in falschem Zusammenhang nannte. Von 1900 bis 1914 habe ich den Namen Paul Valérys als eines Dichters nie im ›Figaro‹, nie im ›Matin‹ erwähnt gelesen, Marcel Proust galt als Geck der Salons, Romain Rolland als kenntnisreicher Musikgelehrter; sie waren fast fünfzig Jahre alt, ehe der erste schüchterne Strahl von Ruhm ihren Namen erreichte, und ihr großes Werk war im Dunkel getan inmitten der neugierigsten, geistigsten Stadt der Welt.

    Daß ich Romain Rolland mir rechtzeitig entdeckte, war ein Zufall. Eine russische Bildhauerin in Florenz hatte mich zum Tee eingeladen, um mir ihre Arbeiten zu zeigen, und auch, um eine Skizze von mir zu versuchen. Ich erschien pünktlich um vier Uhr, vergessend, daß sie eine Russin war und somit jenseits von Zeit und Pünktlichkeit. Eine alte Babuschka, die, wie ich hörte, schon Amme ihrer Mutter gewesen, führte mich in das Atelier, an dem das Malerischste die Unordnung war, und bat mich, zu warten. Im ganzen standen vier kleine Skulpturen herum, in zwei Minuten hatte ich sie gesehen. So griff ich, um die Zeit nicht zu verlieren, nach

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