Die Welt von Gestern
Vielleicht haben wir, undankbar wie wir Menschen sind, damals nicht gewußt, wie stark, wie sicher uns die Welle trug. Aber nur wer diese Epoche des Weltvertrauens miterlebt hat, weiß, daß alles seitdem Rückfall und Verdüsterung gewesen.
Herrlich war diese tonische Welt von Kraft, die von allen Küsten Europas gegen unsere Herzen schlug. Aber was uns beglückte, war, ohne daß wir es ahnten, zugleich Gefahr. Der Sturm von Stolz und Zuversicht, der damals Europa überbrauste, trug auch Wolken mit sich. Der Aufstieg war vielleicht zu
rasch gekommen, die Staaten, die Städte zu hastig mächtig geworden, und immer verleitet das Gefühl von Kraft Menschen wie Staaten, sie zu gebrauchen oder zu mißbrauchen. Frankreich strotzte von Reichtum. Aber es wollte noch mehr, wollte noch eine Kolonie, obwohl es gar keine Menschen hatte für die alten; beinahe kam es um Marokkos willen zum Kriege. Italien wollte die Cyrenaica, Österreich annektierte Bosnien. Serbien und Bulgarien wiederum stießen gegen die Türkei vor, und Deutschland, vorläufig noch ausgeschaltet, spannte schon die Pranke zum zornigen Hieb. Überall stieg das Blut den Staaten kongestionierend zu Kopf. Aus dem fruchtbaren Willen zur inneren Konsolidierung begann sich überall zugleich, als ob es bazillische Ansteckung wäre, eine Gier nach Expansion zu entwickeln. Die französischen Industriellen, die dick verdienten, hetzten gegen die deutschen, die ebenso im Fett saßen, weil beide mehr Lieferungen von Kanonen wollten, Krupp und Schneider-Creusot. Die Hamburger Schiffahrt mit ihren riesigen Dividenden arbeitete gegen die von Southampton, die ungarischen Landwirte gegen die serbischen, die einen Konzerne gegen die andern – die Konjunktur hatte sie alle toll gemacht, hüben und drüben, nach einem wilden Mehr und Mehr. Wenn man heute ruhig überlegend sich fragt, warum Europa 1914 in den Krieg ging, findet man keinen einzigen Grund vernünftiger Art und nicht einmal einen Anlaß. Es ging um keine Ideen, es ging kaum um die kleinen Grenzbezirke; ich weiß es nicht anders zu erklären als mit diesem Überschuß an Kraft, als tragische Folge jenes inneren Dynamismus, der sich in diesen vierzig Jahren Frieden aufgehäuft hatte und sich gewaltsam entladen wollte. Jeder Staat hatte plötzlich das Gefühl, stark zu sein, und vergaß, daß der andere genauso empfand, jeder wollte noch mehr und jeder etwas von dem andern. Und das Schlimmste war, daß gerade jenes Gefühl uns betrog, das wir am meisten lieb
ten: unser gemeinsamer Optimismus. Denn jeder glaubte, in letzter Minute werde der andere doch zurückschrecken; so begannen die Diplomaten ihr Spiel des gegenseitigen Bluffens. Viermal, fünfmal, bei Agadir, im Balkankrieg, in Albanien blieb es beim Spiel; aber die großen Koalitionen formten sich immer enger, immer militärischer. In Deutschland wurde eine Kriegssteuer eingeführt mitten im Frieden, in Frankreich die Dienstzeit verlängert; schließlich mußte sich die Überkraft entladen, und die Wetterzeichen am Balkan zeigten die Richtung, von der die Wolken sich schon Europa näherten.
Es war noch keine Panik, aber doch eine ständige schwelende Unruhe; immer fühlten wir ein leises Unbehagen, wenn vom Balkan her die Schüsse knatterten. Sollte wirklich der Krieg uns überfallen, ohne daß wir es wußten, warum und wozu? Langsam – allzu langsam, allzu zaghaft, wie wir heute wissen! – sammelten sich die Gegenkräfte. Da war die sozialistische Partei, Millionen von Menschen hüben und Millionen drüben, die in ihrem Programm den Krieg verneinten, da waren die mächtigen katholischen Gruppen unter der Führung des Papstes und einige international verquickte Konzerne, da waren einige wenige verständige Politiker, die gegen jene unterirdischen Treibereien sich auflehnten. Und auch wir standen in der Reihe gegen den Krieg, die Schriftsteller, allerdings wie immer individualistisch isoliert, statt geschlossen und entschlossen. Die Haltung der meisten Intellektuellen war leider eine gleichgültig passive, denn dank unserem Optimismus war das Problem des Krieges mit all seinen moralischen Konsequenzen noch gar nicht in unseren inneren Gesichtskreis getreten – in keiner der wesentlichen Schriften der Prominenten jener Zeit findet sich eine einzige prinzipielle Auseinandersetzung oder leidenschaftliche Warnung. Wir glaubten genug zu tun, wenn wir europäisch dachten und international uns verbrüderten,
wenn wir in unserer – auf das Zeitliche doch nur auf
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