Die Welt von Gestern
Salzkammergut, man war neugierig auf die Welt geworden, ob sie überall so schön sei und noch anders schön; während früher nur die Privilegierten das Ausland gesehen, reisten jetzt Bankbeamte und kleine Gewerbsleute nach Italien, nach Frankreich. Es war billiger, es war bequemer geworden, das Reisen, und vor allem: es war der neue Mut, die neue Kühnheit in den Menschen, die sie auch verwegener machte im Wandern, weniger ängstlich und sparsam im Leben –, ja, man schämte sich, ängstlich zu sein. Die ganze Generation entschloß sich, jugendlicher zu werden, jeder war im Gegensatz zu meiner Eltern Welt stolz darauf, jung zu sein; plötzlich verschwanden zuerst bei den Jüngeren die Bärte, dann ahmten ihnen die Älteren nach, um nicht als alt zu gelten. Jungsein, Frischsein und nicht mehr Würdigtun wurde die Parole. Die Frauen warfen die Korsetts weg, die ihnen die Brüste eingeengt, sie verzichteten auf die Sonnenschirme und Schleier, weil sie Luft und Sonne nicht mehr scheuten, sie kürzten die Röcke, um besser beim Tennis die Beine regen zu können, und zeigten keine Scham mehr, die wohlgewachsenen sichtbar werden zu lassen. Die Mode wurde immer natürlicher, Männer trugen Breeches, Frauen wagten sich in den Herrensattel, man verhüllte, man versteckte sich
nicht mehr voreinander. Die Welt war nicht nur schöner, sie war auch freier geworden.
Es war die Gesundheit, das Selbstvertrauen des nach uns gekommenen neuen Geschlechts, das sich diese Freiheit auch in der Sitte eroberte. Zum erstenmal sah man schon junge Mädchen ohne Gouvernante mit jungen Freunden auf Ausflügen und bei dem Sport in offener und selbstsicherer Kameradschaft; sie waren nicht mehr ängstlich und prüde, sie wußten, was sie wollten und was sie nicht wollten. Der Angstkontrolle der Eltern entkommen, als Sekretärinnen, Beamtinnen ihr Leben selber verdienend, nahmen sie sich das Recht, ihr Leben selber zu formen. Die Prostitution, diese einzig erlaubte Liebesinstitution der alten Welt, nahm zusehends ab, dank dieser neuen und gesünderen Freiheit, jede Form von Prüderie wurde zur Altmodischkeit. In den Schwimmbädern wurde immer häufiger die hölzerne Planke, die bisher unerbittlich das Herrenbad vom Damenbad getrennt, niedergerissen, Frauen und Männer schämten sich nicht mehr, zu zeigen, wie sie gewachsen waren; in diesen zehn Jahren war mehr Freiheit, Ungezwungenheit, Unbefangenheit zurückgewonnen worden als vordem in hundert Jahren.
Denn ein anderer Rhythmus war in der Welt. Ein Jahr, was geschah jetzt alles in einem Jahr! Eine Erfindung, eine Entdeckung jagte die andere, und jede wiederum wurde im Fluge allgemeines Gut, zum erstenmal fühlten die Nationen gemeinsamer, wenn es das Gemeinsame galt. Ich war am Tage, da der Zeppelin sich zur ersten Reise aufschwang, auf dem Wege nach Belgien zufällig in Straßburg, wo er unter dem dröhnenden Jubel der Menge das Münster umkreiste, als wollte er, der Schwebende, vor dem tausendjährigen Werke sich neigen. Abends in Belgien bei Verhaeren kam die Nachricht, daß das Luftschiff in Echterdingen zerschellt sei. Verhaeren hatte Tränen in den
Augen und war furchtbar erregt. Nicht war er etwa als Belgier gleichgültig gegen die deutsche Katastrophe, sondern als Europäer, als Mann unserer Zeit empfand er ebenso den gemeinsamen Sieg über die Elemente wie die gemeinsame Prüfung. Wir jauchzten in Wien, als Blériot den Ärmelkanal überflog, als wäre es ein Held unserer Heimat; aus Stolz auf die sich stündlich überjagenden Triumphe unserer Technik, unserer Wissenschaft war zum erstenmal ein europäisches Gemeinschaftsgefühl, ein europäisches Nationalbewußtsein im Werden. Wie sinnlos, sagten wir uns, diese Grenzen, wenn sie jedes Flugzeug spielhaft leicht überschwingt, wie provinziell, wie künstlich diese Zollschranken und Grenzwächter, wie widersprechend dem Sinn unserer Zeit, der sichtlich Bindung und Weltbrüderschaft begehrt! Dieser Aufschwung des Gefühls war nicht weniger wunderbar als jener der Aeroplane; ich bedaure jeden, der nicht jung diese letzten Jahre des Vertrauens in Europa miterlebt hat. Denn die Luft um uns ist nicht tot und nicht leer, sie trägt in sich die Schwingung und den Rhythmus der Stunde. Sie preßt ihn unbewußt in unser Blut, bis tief ins Herz und ins Hirn leitet sie ihn fort. In diesen Jahren hat jeder einzelne von uns Kraft aus dem allgemeinen Aufschwung der Zeit in sich gesogen und seine persönliche Zuversicht gesteigert aus der kollektiven.
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