Die Welt von Gestern
einem Buch oder vielmehr nach ein paar braunen Heften, die dort herumlagen. ›Cahiers de la Quinzaine‹ hießen sie, und ich erinnerte mich, in Paris schon vordem diesen Titel gehört zu haben. Aber wer konnte all die kleinen Revuen verfolgen, die da kreuz und quer im Lande als kurzlebige idealistische Blüten auftauchten und wieder verschwanden? Ich blätterte den Band an, ›L'Aube‹ von Romain Rolland, und begann zu lesen, immer erstaunter und interessierter. Wer war dieser Franzose, der Deutschland so kannte? Bald war ich der braven Russin dankbar für ihre Unpünktlichkeit. Als sie endlich anrückte, war meine erste Frage: »Wer ist dieser Romain Rolland?« Sie konnte nicht genaue Auskunft geben, und erst als ich mir die übrigen Bände verschafft hatte (die letzten des Werkes waren erst im Wachsen), wußte ich: hier war endlich das Werk, das nicht einer einzelnen europäischen Nation diente, sondern allen und ihrer Verbrüderung, hier war er, der Mann, der Dichter, der alle moralischen Kräfte ins Spiel brachte: liebende Erkenntnis und ehrlichen Willen zur Erkenntnis, geprüfte und gekelterte Gerechtigkeit und einen beschwingenden Glauben an die verbindende Mission der Kunst. Während wir in kleinen Manifestationen uns verzettelten, war er still und geduldig an die Tat gegangen, die Völker
einander in jenen Eigenschaften zu zeigen, wo sie individuell am liebenswertesten waren; es war der erste bewußt europäische Roman, der hier sich vollendete, der erste entscheidende Appell zur Verbrüderung, wirksamer, weil breitere Massen erreichend, als die Hymnen Verhaerens, eindringlicher als alle Pamphlete und Proteste; hier war, was wir alle unbewußt erhofft, ersehnt, in der Stille vollbracht.
Mein erstes in Paris war, mich nach ihm zu erkundigen, indem ich Goethes Wort gedachte: ›Er hat gelernt, er kann uns lehren.‹ Ich fragte die Freunde nach ihm. Verhaeren meinte sich an ein Drama ›Die Wölfe‹ erinnern zu können, das im sozialistischen ›Théâtre du Peuple‹ gespielt worden sei. Bazalgette wieder hatte gehört, Rolland sei Musikologe und habe ein kleines Buch über Beethoven geschrieben; im Katalog der Nationalbibliothek fand ich ein Dutzend Werke über alte und moderne Musik, sieben oder acht Dramen, alle bei kleinen Verlegern oder in den ›Cahiers de la Quinzaine‹ erschienen. Schließlich sandte ich, um eine Anknüpfung zu finden, ihm ein Buch von mir. Bald kam ein Brief, der mich zu ihm bat, und so begann eine Freundschaft, die neben einer mit Freud und Verhaeren die fruchtbarste und in manchen Stunden sogar wegentscheidende meines Lebens ward.
Merktage des Lebens haben stärkere Leuchtkraft in sich als die gewöhnlichen. So erinnere ich mich noch mit äußerster Deutlichkeit an diesen ersten Besuch. Fünf schmalgewundene Treppen eines unscheinbaren Hauses nahe beim Boulevard Montparnasse empor, und schon vor der Tür fühlte ich eine besondere Stille; man hörte das Brausen des Boulevards kaum mehr als den Wind, der unter den Fenstern durch die Bäume eines alten Klostergartens strich. Rolland tat mir auf und führte mich in sein kleines, mit Büchern bis zur Decke vollgeräumtes Ge
mach; zum erstenmal sah ich in seine merkwürdig leuchtenden blauen Augen, die klarsten und zugleich gütigsten Augen, die ich je an einem Menschen gesehen, diese Augen, die im Gespräch Farbe und Feuer aus dem innersten Gefühl ziehen, dunkel sich verschattend in der Trauer, gleichsam tiefer werdend im Nachdenken, funkelnd in der Erregung, diese einzigen Pupillen zwischen etwas übermüdeten, von Lesen und Wachen leicht geröteten Lidrändern, die wunderbar aufzustrahlen vermögen in einem mitteilsamen und beglückenden Licht. Ich beobachtete etwas ängstlich seine Gestalt. Sehr hoch und schlank, ging er ein wenig gebückt, als hätten die unzähligen Stunden am Schreibtisch ihm den Nacken gebeugt; er sah eher kränklich aus mit seinen scharfgeschnittenen Zügen bleichester Farbe. Er sprach sehr leise, wie er überhaupt seinen Körper auf das äußerste schonte; er ging fast nie spazieren; aß wenig, trank und rauchte nicht, vermied jede körperliche Anspannung, aber mit Bewunderung mußte ich später erkennen, welche ungeheure Ausdauer diesem asketischen Leibe innewohnte, welche geistige Arbeitskraft hinter dieser scheinbaren Schwäche lag. Stundenlang schrieb er an seinem kleinen, überhäuften Schreibtisch, stundenlang las er im Bette, seinem abgemüdeten Leibe nie mehr Schlaf gebend als vier oder fünf
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