Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
Einheiten untersucht. Das Universum der Astrophysiker funktioniert tatsächlich auf Tao-Art, in
einem wechselwirkenden Prozess seiner Bestandteile, die ihre Balance ständig neu einpendeln müssen. Man könnte geradezu von
einem Harmoniebedürfnis des Kosmos sprechen, ein Gedanke, der mir auch in den Schriften von Albert Einstein begegnet.
Dass der Kosmos ein atmendes Ganzes sei, klingt für uns esoterisch. Für Chinesen ist es ein Lebensgefühl, dass kosmische Wechselwirkung
alles, was in der Welt geschieht, bedingt und in Bewegung hält. Ausatmen und Einatmen, weiblich-männlich, Yin und Yang, sagt
man in China, sind wie unsere beiden Hände einander zugeordnet, wie der rechten meine linke Hand.
Der Abstecher in die Welt des Makrokosmos soll den Lesern die Tao-Kraft als universales Prinzip vor Augen führen. Sie ist
die kosmische Kraft schlechthin und durchwaltet den Mikrokosmos wie den Makrokosmos. Tao ist die Weltsubstanz. Ihrer Wirkkraft
verdanken sich die »fünf Elemente«: Wasser, Feuer, Holz, Metall und Erde, ebenso wie die »fünf Tätigkeiten«: die Geste, das
Wort, der Wille sowie die Wahrnehmung durch Augen und Ohren. Im Tao leben heißt, sich der Weite des Himmels zu öffnen und
gleichzeitig im Dunkel der Erde zu wurzeln. Alles gedeiht, wenn die »Zehntausend Dinge« dies tun. Das ist die Botschaft des
Tao Te King. Tao ist allgegenwärtig. Es ist das Sein, das allem Seienden innewohnt.
Ich hätte es in meiner Umschreibung der Texte gern so übersetzt. Die erste Zeile des Tao Te King würde dann lauten: »Das Sein,
das begriffen werden kann, ist nicht das wahre Sein.« Diese Übersetzung wäre sogar sehr vorteilhaft. Denn »Sein« ist in den
westlichen Sprachen ein Wort, das jeder versteht. Versuchen wir jedoch zu erklären, was »Sein« ist, finden wir keine Worte.
Das hat Tao mit dem Sein gemeinsam, und so gesehen passt es genau in unser westliches Denken. Vom Sein sagt Hegel, der Weltphilosoph
des 19. Jahrhunderts: »Das reine Sein und das reine Nichts ist dasselbe.« Ähnlich lesen wir bei Laotse: »Zehntausend Dinge
entstehen im Sein, das Sein aber entsteht im Nichtsein.«
Allerdings, das Tao öffnet und verschließt sich, es sucht und findet seinen Weg. Tao ist kosmischer Rhythmus, Bewegung. Es
sammelt und gibt frei, kommt |23| und geht weg. Diese Sichtweise ist uns fremd. Für uns bedeutet »Sein« bloßes Beharren. Außerdem ist unser Wort »Sein« ein
geschlechtsloses Neutrum, Tao aber hat für mich einen spezifisch weiblichen Klang. Ich lese Tao darum als »Tao-Art« oder auch
als »Tao-Bewegung«, beide Doppelbegriffe stehen im Femininum.
Mit Yin und Yang im Einklang
Ich gebe zu: Diese Erklärung ist langatmig, aber sie ist unerlässlich. Denn die Tao-Philosophie ist das einzige unter den
großen philosophischen Systemen, das nicht patriarchalisch daherkommt. Nach dem Gleichgewichtsprinzip von Laotse halten Yin-Weiblichkeit
und Yang-Männlichkeit einander die Waage, eine Vorstellung, die mir sehr gefällt. Ja, im Augenblick unserer Weltzeit, so sah
Laotse es voraus, scheint die Tao-Bewegung das Yin deutlich zu bevorzugen. Die einseitige Sonderstellung des Yang in den patriarchalischen
Gesellschaften wird sich früher oder später über das Yin ausgleichen müssen: eine Gegenbewegung. In unserer heutigen Gesellschaft
sehen wir Spuren dieser Bewegung in den Bemühungen um die Gleichstellung der Geschlechter, vom Tao Te King gleichsam vorweggenommen.
In diesen Zusammenhang gehören die folgenden Zitate: »Die Gottheit im Talgrund stirbt nicht, ein dunkles Weibchen ist sie.
Ihrem geheimnisvollen Schoß entstammen Himmel und Erde. Unergründlich ist die Gottheit des Talgrunds, vereinigst du dich mit
ihr, weicht alles Mühen von dir.«
Im »Talgrund« sieht Laotse ein Symbol des Weiblichen, wie auch im Wasser, dem Dunkel-Geheimnisvollen. Und wenn er von Stille,
Nachgiebigkeit, dem Weichen und Schwachen spricht, ist immer das Weibliche mitgedacht.
»Sein Männliches kennen, sein Weibliches wahren, wirst du zum Talgrund werden. Zum Talgrund geworden folgst du dem Ruf der
Natur, bringst dich aufs Neue zur Welt.« Oder: »Der Himmel öffnet und schließt sich, so kannst auch du zum Weibchen werden.«
Welch eine Provokation inmitten einer Männergesellschaft!
Laotses Philosophie versteht sich als Abwägung der Aspekte des Yin und des Yang, des Weiblichen und des Männlichen. Das Zusammenspiel
zwischen ihnen ließ das Universum entstehen.
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