Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
Gebiete.« Unter der Leitung eines Imam wird es »die Pflicht jedes volljährigen und waffenfähigen
Mannes sein, freiwillig in diesen Eroberungskrieg zu ziehen, dessen Endziel es ist, das Gesetz des Korans von einem Ende der
Welt bis zu anderen regieren zu lassen.«
|196| Die Dschihad-Doktrin der muslimischen Rechtsgelehrten jedoch überbietet alle bekannten Denkmodelle religiöser Militanz: Danach
befindet sich der Islam in permanentem Kriegszustand mit dem Rest der Welt. Erst mit Bekehrung oder Unterwerfung aller Menschen
unter Allah und seine Stellvertreter endet der heilige Krieg. Bis dahin kann es keinen Frieden zwischen Gläubigen und Ungläubigen
geben. Allenfalls, dann und wann, eine befristete Waffenruhe. Die Lehre vom permanenten Dschihad hat weitreichende Folgen.
Eine davon ist die religiöse Rechtfertigung des Terrors, den muslimische Rechtsgelehrte als »Ribat« definieren, als eine kriegerische
Handlung einzelner muslimischer Frontkämpfer. Die Ribat-Kämpfer werden entsprechend gefeiert, ihre blutigen Siege bejubelt.
Wie anders, wir erinnern uns, sprach Laotse: »Mit Trauer, unter Tränen, soll man der Abgeschlachteten gedenken, mit Trauerriten
des Sieges.«
Doch ich wiederhole: Der Heilige Krieg gehört nicht zu den Säulen des Islam. Dieser könnte auch ohne ihn existieren. Schließlich
bietet dem Muslim das praktische Leben reichlich Gelegenheit, seinen Glauben zu bewähren. »Der Islam hat für alles, was den
Menschen und die Gesellschaft betrifft, Lehren. Diese kommen von dem Allmächtigen und sind den Menschen durch seinen Propheten
und Boten überliefert. Man ist überrascht von der Größe dieser Gebote, die alle Aspekte des Lebens abdecken, von der Empfängnis
bis zur Bestattung. Es gibt nichts, worüber der Islam nicht sein Urteil gefällt hat«, schreibt Khomeini. Die Stärke des Islam
ist seine Orientierung am Alltag. Streitet man sich, geht es um praktische Dinge.
Im Christentum ist das anders. Auch hier kämpft und feilscht man um Einfluss, Autorität und Herrschaft. Doch die großen Brüche
in der Kirchengeschichte bildeten sich aufgrund von unvereinbaren religionsphilosophischen Lehrmeinungen.
Martin Luther war gewiss kein Machtstratege. »Ich regier nicht gern, es liegt mir nicht«, sagte er von sich. In seinen theologischen
Überzeugungen war er dagegen unerbittlich: »Ich habe dem Papst die Lehre angegriffen und das Herz abgebissen!« Da war Luther
groß, grob und bedingungslos. Machtspiele aber interessierten ihn nicht. Gerade deswegen forderte er die Trennung von Politik
und Religion.
|197| Islam, Judentum und Christentum
Strittig ist zwischen Muslimen und Juden das Erbe Abrahams. War Abraham der erste Jude, wie das Judentum meint, oder war Abraham
der erste Muslim, wie der Islam behauptet? Man kann darüber durchaus verschiedener Meinung sein, doch dass der Streit bis
zum Blutvergießen eskaliert, ist für mich eines der traurigen Kapitel der Religionsgeschichte. Es geht schließlich um eine
Erinnerung, eine Überlieferung, eine Fiktion, und nicht minder fiktional ist der Anspruch auf Abrahams Erbe, das so genannte
Heilige Land.
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht die Frage nach der Zuverlässigkeit der Heiligen Schriften beider Religionen. Die
Muslime werfen den Juden vor, sie hätten die Tora verfälscht und nicht korrekt überliefert. Diese wiederum bestreiten die
göttliche Urheberschaft des Korans. Vor allem dessen bibelbezogene Teile haben für sie keinerlei Offenbarungswert. Es ist
buchstäblich ein Streit um Worte, den nur ein Mann wie Baruch de Spinoza schlichten könnte. Dazu aber sind beide Religionen
im Augenblick nicht bereit. Sie lassen, wieder einmal, ihre Waffen sprechen. Tora und Koran sind ihrem Anspruch nach staatliche
Verfassungsurkunden, das »Wort Gottes«. Und wer daran zu zweifeln wagt, wird zum gottlosen Bösewicht.
Ich zitiere ein weiteres Mal den Begründer der kritischen Bibelwissenschaft. Erst mit ihrer Hilfe, so Spinoza, können wir
uns »Klarheit über das Leben, die Sitten und die Bestrebungen des Verfassers der einzelnen Bücher« der Bibel verschaffen,
»dann über das Geschick jedes einzelnen Buches, nämlich, wie man es zuerst erhalten und in wessen Hände es gekommen ist, ferner
wie viel Lesarten es davon gibt und auf wessen Rat es unter die Heiligen Schriften aufgenommen wurde«. Erst dann »können wir
uns anschicken, den Sinn der Propheten und des Heiligen Geistes
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