Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
Stimme nicht erheben. Was würde Allahs Gesandter sagen, wenn er dich auf deinem Kamel einher stürmen sähe? Denkst
du etwa, das würde ihm gefallen?« Aisha beeindruckte das nicht. Sie glaubte an ihre Mission. Zehntausende von Toten und Verletzten
soll die »Kamelschlacht« gekostet haben, und sie endete erst, als Aishas Kamel mit zerschnittenen Sehnen niedersank. Da ergriffen
ihre Leute die Flucht.
Ali versuchte, dem Treffen auszuweichen. Standen sich doch hüben wie drüben alte Kampfgefährten des Propheten plötzlich als
Feinde gegenüber. Der Kalif ließ sogar im letzten Augenblick, ehe das Abschlachten begann, zwischen den Fronten aus dem Koran
vortragen! Umsonst, Aisha war nicht aufzuhalten. Dieses Mal allerdings zog sie den Kürzeren. Ali schonte seine Feindin, schickte
sie zurück nach Medina und kostete seinen Sieg nicht aus. Er verbot, den fliehenden Kämpfern nachzusetzen, ließ alle Gefangenen
frei und befahl, die Leichen der Gegner würdig zu bestatten.
Ahnte der zögerliche Ali, welche verhängnisvollen Folgen die blutige Entzweiung nach sich zog? Die Kamelschlacht stieß die
Tür zu den Bruderkriegen auf. Hätte Aisha nicht Alis rechtmäßige Wahl sabotiert, wäre es vielleicht nie zu dem großen Schisma
gekommen, das bis heute die muslimische Welt teilt. Ali ibn Abu Talib wurde drei Jahre nach der Kamelschlacht hinterrücks
erdolcht, ermordet wie vor ihm schon zwei andere Kalifen. Sein Sohn Husain verlor zwei Jahrzehnte darauf sein Leben in dem
Gemetzel von Kerbala im Irak. Der politische Gegenspieler Husains war Yazid, dessen Vater die Truppen schon zu Lebzeiten Alis
als rechtmäßigen Kalifen ausgerufen hatten. Muhammads Tod lag inzwischen 50 Jahre zurück, man schrieb das 61. Jahr nach der
Hidschra. »Ein Wildesel-Mensch wird er sein, und alle seine Brüder wird er provozieren«, hatte der Engel den Söhnen Ismaels
mit auf den Weg gegeben. Genau so trat der Islam seinen Weg durch die Geschichte an.
|193| Die Anhänger der Schia, der Partei Alis, betrauern bis heute Husains Tod. Ihre Überlieferung erzählt, dass zu seiner Geburt
der Engel Gabriel dem Propheten Muhammad erschienen war und ihm sagte: »O Prophet Allahs, ich bin tief betrübt wegen dieses
neugeborenen Sohnes [Husain] von Fatima, der unsägliche Schwierigkeiten, Nöte, Wunden und Schmerzen erleiden wird. Er wird
schließlich mit all seinen treuen Anhängern den Märtyrertod erleiden in der Wüste Kerbala an den Ufern des Euphrats.« Seine
Parteigänger hatten Husain, ihren geistlichen Führer, vor der Schlacht schnöde im Stich gelassen, alle bis auf 72 Getreue,
darunter Nachkommen aus dem Hause Muhammads. Eine blutige Geschichte, die damit endete, dass die Sieger Husains Kopf sowie
die Häupter seiner Mitstreiter auf ihre Lanzenspitzen steckten und als Trophäen vor sich hertrugen. Den Verrat an Husain,
dem Prophetenenkel, dem seine Truppen davongelaufen waren, empfinden die Schiiten als Schuld und Schande, die noch heute auf
ihnen lastet. Am Aschuratag begehen sie alljährlich das Gedenken an die »Märtyrer-Schlacht« unter Tränen und Schluchzen mit
Trauerprozessionen und blutigen Selbstgeißelungen der jungen Männer.
Seit dem Ende Husains zerfiel der Islam endgültig in die beiden Lager der Schiiten und Sunniten. »Anhänger der Sunna« ist
eine irreführende, unscharfe Bezeichnung für den traditionellen Islam. Denn die »Sunna« des Propheten achten die Schiiten
genauso. Diese ist nichts anderes als die Gesamtheit aller Aussprüche, Taten und Entscheidungen Muhammads und seiner Familie,
die in den Hadithen gesammelt sind, und das ist seit dem 9. Jahrhundert neben dem Koran die wichtigste Quelle religiöser Vorschriften.
Sunniten und Schiiten betrachten gleichermaßen auch den Koran als ultimative Offenbarung Allahs. Allerdings wirft man den
sunnitischen Glaubensgeschwistern vor, das Heilige Buch und die Tradition verfälscht zu haben – eine Verdächtigung, die schon
Muhammad gegenüber der jüdischen Tora-Überlieferung ins Feld führte. Deshalb halten sich die Schiiten zusätzlich an die Traditionslinie
ihrer Imame, ihrer geistlichen Führer. Diese allein kennen die verborgene Auslegung des Koran, besitzen übernatürliches Wissen,
sehen in die Zukunft und sind frei von Sünden. Weil Allah sich Muhammad auf ewig verbürgte, stammen alle Imame aus seiner
Nachkommenschaft. Die schiitische Imam-Tradition ist dem sunnitischen Islam fremd. Die Nachfolger
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