Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
Jääskeläinen kommt durch die Tischreihen auf sie zu und summt dabei leise vor sich hin. Serge gibt ihr ein warnendes Zeichen, und sie lässt das Telefon in der Tasche verschwinden. Timo Jääskeläinen ist der stellvertretende Leiter der Securitisation, ein leise sprechender Finne mit großer Nase,perfekten Zähnen und einem Porsche in der Tiefgarage, der ein paar Hundert Riesen gekostet hat. Samstags singt er als Tenor in einem A-cappella-Quartett, und einmal im Monat fliegt er nach Helsinki, um seine Mutter zu besuchen. Sie nennen ihn Tim the Finn.
»Gibt’s Probleme?« Timo taucht in der Tür auf und zeigt die Zähne, aber eindeutig nicht um zu lächeln. Er benutzt ein starkes Aftershave, das nach Anis und Feuerzeugbenzin riecht. »Habe ich dich gerade mit deinem Privathandy telefonieren sehen, Maroushka?«
»Sie hat nur ihre Mutter in ... äh ... angerufen«, sagt Serge schnell. »Die Brustkrebs hat.«
»Ach so. Na gut.« Tim versucht eine mitfühlende Miene zu machen, aber das fällt seinen Gesichtszügen schwer. »Nächstes Mal machst du das bitte draußen. Nicht hier. Wenn die Leute anfangen, hier Privatgespräche zu führen, ist die Integrität des Handelsraums kompromittiert. Du verstehst?«
Dann schleicht Timo weiter zu den Toiletten. Es geht das Gerücht, dass er Prostataprobleme hat. Maroushka holt das Handy aus der Tasche und sieht Serge an.
»Warum redest du so, Serge? Krebs! Was für Krebs? Du hast zu nihilistische Meinung von Leben.«
»Ich dachte, du hast gesagt, sie hatte eine Brust-OP.«
»Ja, schöne große Brüste. Männern gefällt.«
»Oh.«
Auch Serge hat gerade mit seiner Mutter telefoniert, allerdings ging es nicht um Brustvergrößerungen. Als er zur U-Bahn hetzte, rief sie ihn auf dem Handy an, um sich mit ihm zu verabreden – sie hätte ihm etwas Wichtiges zu sagen. Er musste sich schnell etwas einfallen lassen.
»Tut mir leid, Mum. Ich bin eine Weile in London, weil ich ... an ... einem Sonderprojekt arbeite, mit ... ein paar Leuten vom Imperial College.«
»Wie spannend. Wenn wir uns sehen, musst du mir unbedingt mehr davon erzählen. Ich habe nicht viel zu tun, jetzt wo Oolie-Anna zu arbeiten angefangen hat. Es wäre ein wunderbarer Vorwand für mich, mal wieder nach London zu fahren.«
Die Sache ist die, seine Eltern denken, er wäre noch in Cambridge. Er hat sich nicht getraut, ihnen von seinem neuen Job zu erzählen. Man sollte meinen, die meisten Eltern wären froh, wenn ihr Sohn noch vor seinem dreißigsten Geburtstag neunzigtausend im Jahr verdient. Aber nicht Doro und Marcus. Für sie wäre es der ultimative Verrat an seinen Idealen, womit sie ihre Ideale meinen, denn Serge hat nie behauptet, dass er welche hätte – höchstens ein generelles Wohlwollen der Menschheit gegenüber. Besonders dem weiblichen Teil der Menschheit gegenüber. Vor allem Maroushka.
Kameraschwenk, Nahaufnahme: Maroushka Malko, seit kurzem achtundzwanzig, schön, verhätschelte Tochter zweier Akademiker (ja, sie haben bereits persönliche Informationen ausgetauscht, wenn auch noch keine Körperflüssigkeiten), Hochschulabschluss cum laude an der renommierten europäischen Universität von Shy... wo auch immer. Immatrikuliert für ein Promotionsstudium in Mathematik am University College London, das sie selbst finanziert. Hat bei einer Büroreinigungsfirma angefangen, bis jemand bei der FATCA auf ihre mathematischen Fähigkeiten aufmerksam wurde und sie eine befristete Stelle bei den Quants bekam.
Schwenk zu: Serge Free, fast neunundzwanzig. Studium in Cambridge, gutaussehend ... bzw. attraktiv ... bzw. attraktiv, wenn man sich zu kleinen dünnen Männern mit Buddy-Holly-Brille und schiefem Lächeln hingezogen fühlt (was sie hoffentlich bald tun wird). Vernachlässigter Sohn linker Hippies, Überlebender von Solidarity Hall, der Kommune im südlichen Yorkshire, wo er aufgewachsen ist, mit einer wechselnden Mitbewohnerschaft von Erwachsenen, Kindern und diversen Kleintieren, toten und lebendigen.
Trotz dieser oberflächlichen Unterschiede haben er und Maroushka, wenn man genau hinsieht (was er regelmäßig tut), ziemlich viel gemeinsam. Beide haben sie vor gut einem Jahr bei der FATCA angefangen. Beide sind Mathematiker, beide arbeiten mit risikobasierten Derivaten, beide sind hochintelligent. Demnach wäre es nur folgerichtig, wenn sie zusammenkämen. Ganz ehrlich: Es gibt nicht viele Paare, die sich abends im Bett über die Fibonacci-Folge und die Gauß-Kurve unterhalten können.
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