Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
Stacheldraht-und-Maschenzaun-Welt herauskatapultieren würde. Nach der ersten Woche pflanzte sie einen schnell wachsenden Knöterich in der Hoffnung, er würde den hässlichen Parkplatzzaun überwuchern, doch inzwischen hat selbst dieses zähe Schlingkraut den Kampf gegen Vandalismus, Urin und das Klima von Doncaster mehr oder weniger aufgegeben. Und wie der Knöterich spürt auch Clara, dass die örtlichen Zustände ihrem Durchhaltevermögen zusetzen. Sie klappt ihre Frühstücksbox aus Plastik auf und nimmt den Schokoladenriegel heraus, den sie als Zuckerspritze dabeihat, um bis zur Mittagspause durchzuhalten. Sie bricht ihn in der Mitte durch und gibt Jason die Hälfte. Egal was Mr. Kenny gesagt hat, Jason ist eins dieser Kinder, deren Hoffnungslosigkeit ihr ans Herz rührt.
»Sag’s niemandem. Und jetzt ab mit dir.«
Zögernd steckt Jason die Schokolade ein. Als sie die Plastikdose gerade schließen will, streckt er blitzschnell die Hand aus und zieht eine rohe Karotte heraus, die zu einer Rakete geschnitzt ist.
»Was ist das, Miss?«
Bevor sie antworten kann, beißt er hinein und hat die Karotte im Nu verputzt.
»Eine Karotte, Jason. Gemüse.«
Er hält sich den Bauch und macht Würgegeräusche. »Oh nein! Ich muss sterben! Gemüsevergiftung!«
Unwillkürlich muss sie lachen.
»Wenn ich sterbe, Miss, sind Sie dran schuld.«
»Du stirbst eher, wenn du kein Gemüse isst.«
»Mam sagt, wenn ich Karotten esse, stehen die Tussis auf mich.« Er grinst sie schelmisch mit schlechten Zähnen an. »Stehen Sie auf mich? Ich stehe nämlich auf Sie.«
Von all den hoffnungslosen Kindern in ihrer Klasse gibt es immer eins, das ihr besonders nahegeht.
Auf dem Heimweg bleibt sie auf der M1 stecken, weil es einen Unfall gegeben hat, der Verkehr kommt fast zum Erliegen. Erst gegen sechs löst sich der Stau auf, und sie rauscht nach Sheffield hinein, über den Parkway-Kreisel, unter der Straßenbahnbrücke durch und an der Wasserrutsche des Freizeitzentrums vorbei. Verglichen mit dem tristen Backsteinhäusergewirr von Doncaster ist Sheffield eine schimmernde Metropole, in der das kulturelle Leben pulsiert. Sie stellt den Wagen auf ihrem Parkplatz ab, schließt die Wohnungstür auf und streift die Schuhe ab wie eine alte Haut. Dann setzt sie Teewasser auf, zündet sich die einzige Zigarette des Tages an, sieht durch die Pflanzen an ihrem Fenster zu den Leuten hinunter, die über den Platz flanieren, wo sich die Lichter im Brunnen spiegeln, und denkt an die Kinder in ihrer neuen Klasse.
Als Kind glaubt man, dass die Welt, in der man lebt, die einzige Welt ist; man versteht nicht, wie vergänglich, wie provisorisch alles ist. Wie schnell sich alles ändern kann. Sie wünschte, sie könnte Jason Taylor zur Seite nehmen und es ihm erklären. »Keine Angst«, möchte sie ihm sagen, »du schaffst es hier raus. Sieh mich an, ich lebe auch nicht mehr in einer Kommune. Ich habe eine hübsche moderne Wohnung im Zentrum von Sheffield mit einem sauberen Badezimmer ganz für mich allein und hohen Fenstern voller Pflanzen mit Blick auf einen Platz mit Brunnen und Cafés. Irgendwann bist du erwachsen, und dann kannst du dir dein Leben selbst aussuchen.«
Aber sie weiß nicht genau, ob das wirklich stimmt.
Serge
Cappuccino
Eins, eins, zwei, drei, fünf, acht, dreizehn ... Die Geisterkaninchen sind noch da, kauern auf seinem Bett, während Serge sich aus dem Traum herauskämpft. Mit gespitzten Ohren und zuckenden Nasen beobachten sie ihn schnüffelnd, als wollten sie ihn vor einer Gefahr warnen. Er geht den Tag durch – Fußmarsch, U-Bahn, Fußmarsch, Büro, hallo Team, hallo Maroushka, Arbeit, Arbeit, Arbeit, schnelle Mittagspause. Dann fällt es ihm wieder ein – er muss sich heute Nachmittag mit Doro treffen.
Normalerweise würde er sich freuen, eine Pause vom Computer einzulegen und den Nachmittag mit seiner Mutter zu verbringen, aber das Problem ist, seine zwei Welten – seine Vergangenheit und seine Gegenwart – sind so unterschiedlich, so gegensätzlich, dass ihr Zusammenprall wie der zweier subatomarer Teilchen in der Lage wäre, ihn vollkommen auszulöschen.
Wie soll er der Gefahr begegnen? Er zieht sich die Decke über den Kopf und schläft weiter.
Die Kaninchen sind verschwunden, und plötzlich wandert er durch das bröckelnde, weitläufige Labyrinth von Solidarity Hall, dem Haus, in dem er aufgewachsen ist. Es ist früh am Morgen, sie machen sich für die Schule fertig, die Kleider liegen in einem Haufen auf dem
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