Die Werwolfbraut (German Edition)
Offenbar war seine Kraft bei Tag viel schwächer als bei Nacht. Doch um Francesca umzubringen, reichte sie allemal.
Die Bestie ließ scheinbar von ihren Bemühungen ab, in den Rittersaal einzudringen. Schon atmete Francesca auf. Zu früh.
Der Werwolf rannte mit aller Wucht gegen die Tür. Krachend flog sie auf. Francesca taumelte zur Seite und fiel hin. Der Werwolf stürzte gleichfalls zu Boden, vom Schwung seines Anlaufs getrieben. Er und Francesca sprangen gleichzeitig auf die Füße. Die Bestie hatte sich in ihrer Mordgier noch weiter verwandelt. Dunkle Haarbüschel sprossen jetzt auf dem Oberkörper. Die Hände waren zu Pranken geworden, wenn auch noch nicht riesig.
Francesca flüchtete hinter den langen Tisch. Der Werwolf sprang darüber. Blitzschnell, weil sie sich keinen anderen Rat wusste, kroch Francesca unter dem Tisch durch. Die Bestie sprang auf den Tisch. Unter Aufbietung aller Kräfte hob die schöne junge Frau einen Eichenholzstuhl hoch und warf ihn gegen den Werwolf.
Er fegte ihn glatt zur Seite. Der Wurf mit dem Stuhl beeindruckte ihn überhaupt nicht. Ehe er sie ansprang und packte, rannte Francesca zur Wand und riss eine von zwei gekreuzten, dort hängenden Hellebarden herunter. Die Todesangst gab ihr Kräfte.
Als der Werwolf sich näherte, richtete Francesca die Hellebarde gegen ihn, die sie krampfhaft umklammerte.
»Keinen Schritt weiter, oder ich durchbohre dich!«
»Du hättest nicht in mein Schlafgemach vordringen sollen«, grollte der Werwolf. »Jetzt kennst du das Geheimnis. Darum musst du sterben.«
»Du hast mir Liebe geschworen, Ricardo. Verschone mich. Wenn du mich umbringt, ist alles Gute vernichtet, was vielleicht noch in dir ist. Dann bist du auf ewig verdammt.«
Einen Moment zögerte der Werwolf. Dann sprang er vor und entriss Francesca mit ungeheurer Kraft die Hellebarde. Er nahm sie ihr weg wie ein Erwachsener einem dreijährigen Kind etwas aus Hand nahm. Francesca wich an die Wand zurück, die Hand auf ihr Herz gepresst.
»Ricardo!«, flehte sie nochmals.
Der Werwolf zerbrach die Hellebarde glatt über dem Knie und warf die beiden Teile zur Seite. Und näherte sich dem Mädchen. Diesmal fiel Francesca nicht in Ohnmacht wie im Keller in der stickigen, dumpfen Luft beim Anblick des abgenagten Knochens. Bald werden auch meine Gebeine dort liegen, dachte sie in atemlosem Schrecken. Die glühenden Augen des Werwolfs funkelten sie an. Er stand so nahe vor ihr, dass sie seinen Atem spürte.
Er packte sie bei den Schultern.
»Nein!«, rief Francesca. »Töte mich nicht.«
»Ich... kann nicht anders«, grollte es aus dem weitaufgerissenen Rachen.
Francesca wäre verloren gewesen. Doch da geschah etwas Unerwartetes.
»Ricardo, was fällt dir ein?«, fragte eine brüchige Frauenstimme. »Sei ein braver Junge und lass die Signorina los. Du erschreckst sie und tust ihr weh.«
Der Werwolf schaute sich um. Francesca sah an ihm vorbei. Im Rittersaal stand die alte Beschließerin Filomena, mit einem großen Silberkreuz in der Hand, an dem wertvolle Edelsteine funkelten. Der Werwolf knurrte sie an. Noch ließ er Francesca nicht los.
»Lykanthropus!«, rief die Greisin mit gebieterischer Stimme. »Zurück!«
Der Werwolf knurrte und fauchte. Widerstrebend ließ er Francesca los, die sofort auf die andere Seite des langen Tisches flüchtete. Der Werwolf stand der buckligen kleinen Greisin gegenüber. Riesig wirkte er gegen sie und ragte bedrohlich vor ihr auf. Geisterhaft verzerrt war sein Schatten an der Wand zu sehen und richtete sich über Filomenas kleinem Schatten auf.
»Zurück, du unartiger Junge!«, rief Filomena. »Benimm dich. Ich bin deine Kinderfrau gewesen. Du schuldest mir Respekt und Gehorsam. Deine Mutter hat dich mir anvertraut, ehe sie starb. Nur weil du ein Werwolf bist, heißt das noch lange nicht, dass du dir schlechte Manieren erlauben kannst. – Also, was ist?«
Der Werwolf schaute das Kreuz an und war sichtlich betroffen. Francesca traute ihren Augen nicht, als er sich winselnd auf alle Viere niederließ. Sein Körper veränderte sich und wurde wolfsähnlicher. Gleich darauf ging die Metamorphose zurück, bis nur noch der Schädel wolfsähnlich war. Das Tageslicht bewirkte das.
»Geh!«, sagte Filomena.
Der Werwolf gehorchte. Geduckt schlich er an der Greisin vorbei, die vor ihm keine Angst zeigte. Er verließ den Rittersaal.
»In dein Zimmer!«, rief Filomena ihm nach. »Du hast Hausarrest, bis der Vollmond vorbei ist. Das war sehr ungehorsam von dir,
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