Die Werwolfbraut (German Edition)
Lampedusa erhob sich nördlich vom Dorf, auf halbem Weg zwischen diesem und Caulonia. Eine halbe Stunde Fußmarsch vom Castello entfernt gab es eine Klosterruine in den Bergen, das Kloster vom Heiligen Bernhard. Nur Ruinen waren noch davon übriggeblieben. Das Castello Lampedusa war ein starkes Gemäuer mit dicken Mauern, die noch aus der Zeit der Condottieri, der Söldnerführer, stammten. Die Lampedusas hatten das Schloss erst im vorigen Jahrhundert übernommen, als das Geschlecht ausstarb, das es bis dahin innehatte.
Woher die di Lampedusas kamen, wusste niemand genau. Viele Geheimnisse rankten sich um dieses Geschlecht. Der älteste Sohn, wurde gemunkelt, sollte jeweils ein Werwolf sein, ein Lykanthropus nativus, ein geborener Werwolf, dem der magische Keim in den Genen schlummerte. Durch seinen Biss übertrug ein solches Ungeheuer den magischen Keim auf ein menschliches Opfer, das seinen Überfall überlebte. Näheres wusste niemand. Die ungeheuer reichen di Lampedusas hatten sich von der Landbevölkerung immer abgesondert.
Jetzt war Marchese Ricardo der Besitzer des düstern Castellos. Es wurde gemunkelt, so abweisend die Mauern von außen wirkten, so prunkvoll wäre die Inneneinrichtung. Ricardo di Lampedusa lebte mit einer Handvoll Bediensteter in dem Schloss. Seine Eltern waren gestorben, Verwandte, hieß es, hatte er nicht. Vielleicht verkroch er sich in dem Schloss, vielleicht war er viel unterwegs. Keiner wusste es genau.
Der Lebenswandel und die exponierte Stellung des Marchese gaben zu Spekulationen Anlass. An diesem Abend, als Michele Montalba seine Unterredung mit seiner Tochter Francesca beendet waren, waren Pinienhain in der Nähe des Dorfes noch drei Beerensammlerinnen unterwegs. Eine davon hieß Rosanna Andrigotti und war eine Cousine von Francesca Montalba.
Sie war siebzehn Jahre alt, schwarzhaarig und leidlich hübsch. Ihre beiden Freundinnen hießen Annunciata und Rita und waren fünfzehn und sechzehn. Die drei hatten, statt fleißig Beeren zu sammeln, an einer Quelle im Schatten gesessen, die Füße ins Wasser gehängt und miteinander geplaudert.
Es gab viel zu erzählen für drei Mädchen in dem Alter, auch wenn sie sich jeden Tag sahen. Das bevorzugte Gesprächsthema waren die Liebe, junge Männer, Schönheitsmittel, Kleider und Frisuren, die Seifenopern im Fernsehen, die auch hierher Zugang gefunden hatten, und Klatsch aller Art.
»Der Marchese wirbt um Francesca«, sagte die sommersprossige, pummlige Rita. Es gab nur einen Marchese in der Gegend. »Mit ihm wird sie noch ihr blaues Wunder erleben, mit diesem Werwolf.«
»Es gibt keine Werwölfe«, sagte die dünne Annunciata, schwarzhaarig und groß, fünfzehn Jahre alt. Sie war die Tochter der Schwester des Pfarrers von Caulonia, der die Gemeinde San Clemente mit betreute. Sie wohnte mit ihrer Familie in San Clemente und bildete sich eine Menge ein, weil ihr Bruder ein Geistlicher war. »Wer so etwas glaubt, ist abergläubisch und dumm.«
Rosanna und Rita wussten es besser.
»In jeder Vollmondnacht hört man das Heulen der Wölfe«, erzählten sie. »Schafe werden gerissen. In den letzten Jahren sind fünf Menschen in der Region spurlos verschwunden. Von zweien hat man Blutspuren gefunden.«
»Was für Leute waren das?«, fragte Annunciata schaudernd.
»Eine alte Frau, zwei Männer aus Caulonia und Cittanova und zwei Kinder«, erklärten ihre Freundinnen ihr. »Das eine verschwand aus der Wiege. Nachbarn erklärten, ein Schatten sei aus dem Fenster des Kinderzimmers gesprungen. Dann habe man das Weinen des Kindes gehört, das sich rasch entfernte.« Rita beugte sich vor. »Die Spuren von riesigen Wolfstatzen wurden auf dem Gelände gefunden. Die armen Eltern starben beinahe vor Kummer. Die Mutter des Kindes versuchte, sich in einem Brunnen zu ertränken. Im letzten Moment konnte sie noch gerettet werden.«
»Ich habe von der Geschichte gehört«, sagte Rosanna, die es so genau nicht gewusst hatte. »Das ist auf der anderen Seite der Berge passiert.«
»Ein Werwolf läuft schnell, wenn ihn der Blutdurst packt«, flüsterte Rita. »Vom Kastell über die Berge ist es für ihn nur eine gute Stunde.« Noch leiser sagte sie: »Es heißt, der Marchese hätte einen jüngeren Bruder gehabt. Seit vielen Jahren hat diesen niemand mehr gesehen. Bestimmt hat der Werwolf ihn auch zerrissen.«
»Wo sind denn die anderen Opfer geblieben?«, erkundigte Annunciata sich ängstlich.
»Wer weiß es«, antworteten ihre Freundinnen. »Jedenfalls
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