Die Werwolfbraut (German Edition)
sind sie nicht mehr am Leben. Der Werwolf hat sie an einen abgelegenen Ort gejagt oder verschleppt. Dort hat er seinen Blutdurst an ihnen gestillt.«
Annunciata, die sich zuvor als Skeptikerin gegeben hatte, bebte. Sie versuchte, ihre Kaltblütigkeit wiederzugewinnen.
»Unsinn, Aberglaube und dummes Zeug. Mein Onkel Don Pasquale, der Pfarrer, wäre entsetzt, das zu hören.«
»Auch Don Pasquale verkriecht sich in seine Kirche, wenn er in den Vollmondnächten das Wolfsgeheul hört«, sagte Rosanna. »Doch ich mag es nicht recht glauben, dass Marchese Ricardo tatsächlich ein mörderischer Werwolf ist.«
»Die Lampedusas sind alle Werwölfe«, erklärte Rita. »Das heißt, diejenigen, die überleben. Der älteste Sohn ist jeweils ein Werwolf. Er bringt seine jüngeren Geschwister und die übrigen Familienmitglieder um, wenn er alt genug ist, damit er allein herrschen kann. Der Fluch wird jeweils in der männlichen Linie weitervererbt.«
»Und der Vater, der alte Werwolf?«, fragten Rosanna und Annunciata.
»Es heißt, ein Gebirgsjäger hätte den alten Lampedusa mit einer Silberkugel erschossen und die Leiche in eine Gebirgsschlucht geworfen«, berichtete Rita. »Ricardo, der Sohn, ist schlauer.«
»Wie kann man denn Werwölfe töten?«, fragte begierig Annunciata, die auf dem Gebiet nicht so gut Bescheid wusste.
»Mit einer Silberkugel natürlich«, antwortete Rosanna. »Und mit silbernen Waffen, am besten mit Erbsilber, also mit Silber, das mehrere Generationen alt ist.«
Rita zeigte gleich, dass sie mehr wusste als ihre Freundin.
»Ein Werwolf ist ein Mensch, der sich jeweils bei Vollmond in einen reißenden Wolf verwandelt«, erzählte sie. »Daran ist ein besonderer Keim in seinem Blut schuld. Der Lykan... Lyko... Lykup... Also, der Werwolfkeim. Der Werwolf ist ein Geschöpf der Nacht, eine Kreatur des Teufels. Er ist rasend und böse und mordgierig in seiner Wolfsgestalt. Er kann seinen Trieb nicht beherrschen. In seiner menschlichen Gestalt kann er ein durchaus liebenswürdiger Mensch mit guten Eigenschaften und edlen und hehren Zielen sein. Aber dann überkommt es ihn. Das Licht des Vollmonds dringt in die Abgründe seiner Seele. Das Ungeheuer steigt daraus hervor und verwandelt sogar die äußere Gestalt des Menschen in eine mörderische, behaarte Bestie. Nicht einmal diejenigen zu morden, die er als Mensch liebt, schreckt der Werwolf zurück.«
Rita schilderte das so abscheulich, dass ihre Freundinnen sich näher zu ihr beugten und schaudernd zuhörten.
»Der Werwolf hat ungeheure Kräfte«, berichtete Rita weiter. »Ich habe von einem Fall gehört, dass eine uralte, gebrechliche Frau in ihrer Werwolfsgestalt zolldicke Eisengitter auseinanderbog, um ihrem Gefängnis zu entrinnen. Es ist kein Exorzismus bekannt, der den damit geschlagenen Menschen von seinem zweiten Ich, dem Werwolf, befreien würde. Es gibt geborene Werwölfe, als Fluch oder besondere Veranlagung in einer Familie, und andere, die durch den Biss eines Werwolfs dazu werden. Nur Silber tötet den Werwolf. Weihwasser schreckt ihn nicht ab. Der Anblick eines Kreuzes und geweihter Gegenstände ist ihm unangenehm, aber nicht gefährlich.«
»Was du alles weißt«, sagte Rosanna.
»Lauter Unsinn«, bemerkte Annunciata.
Doch sie war beeindruckt, zitterte und schaute sich um, ob im Waldesdickicht vielleicht schon ein Unhold lauerte. Rosanna seufzte.
»Schade, wenn der Marchese tatsächlich ein Werwolf ist«, sagte sie. »Er ist so ein schöner, stattlicher Mann. Vielleicht ist es nur eine bösartige Verleumdung, die über ihn in die Welt gesetzt wurde, von missgünstigen Neidern und alten Weibern. Er ist anders als die übrigen Leute hier, er sondert sich ab, er steht über uns.«
»Über deiner Cousine Francesca liegt er wohl eher«, äußerte Rita und kicherte obszön. Ihre Fantasie ging mit ihr durch. »Flirte mit ihm, vielleicht kannst du deine Cousine ausstechen und den Marchese umgarnen. Dann wirst du bald merken, ob er ein Werwolf ist oder nicht.«
»Als Mann wäre er mir eine Sünde wert«, sagte Rosanna kess. »Aber als Werwolf... Ich will meine Ewige Seligkeit nicht verlieren.«
»Deine Unschuld wohl eher«, stichelte Rita.
Die drei jungen Mädchen redeten unter sich offen und waren keineswegs so tugendhaft, wie es sich der Pfarrer Don Pasquale gewünscht hätte. Die Väter und Brüder wachten eifersüchtig über die Unbescholtenheit der unverheirateten weiblichen Familienmitglieder. Das war Sitte so. Eine Frau musste
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