Die widerspenstige Braut
sich in den Kampf ein. »Er hat die letzten fünf entlassen, also mag er sie nicht.«
»Wie viele Gouvernanten habt ihr bereits gehabt?«
»Elf«, sagte Agnes.
»Elf!« Samantha hasste es, beeindruckt zu klingen, aber sie war es. Wenn Erfolg an Ungezogenheit gemessen würde, hätten diese Kinder einen bemerkenswerten Rekord vorzuweisen.
»Was ist mit ihnen geschehen?«
Mara verhedderte sich in der Fransenkante des Teppichs.
»Sie sind gegangen.«
Samantha ergriff ihren Arm und bewahrte sie vor einem Sturz. »Warum?«
Unisono spreizten alle Mädchen ihre Hände, Handflächen nach oben, und zuckten die Achseln.
»Elf also.« Samantha holte tief Luft. »Aber ihr müsst euch keine Sorgen machen. Euer Papa wird mich mögen. Jeder mag mich, besonders Kinder.« Und wenn es jemals Kinder gegeben hatte, die eine Gouvernante brauchten, dann waren es diese hier. Sie trat einen Schritt auf Agnes zu, die offensichtlich die Urheberin dieser kleinen Rebellion war. »Und wenn er mich nicht mögen wird, spielt das keine Rolle – weil ihr mich mögen werdet.«
Henrietta beschloss, sich in dieses Spiel einzumischen. »Nein, werden wir nicht!«
»Nein!« Agnes’ Lippen waren zusammengepresst.
»Ich mag ssie«, lispelte Emmeline. »Ssie ist lustig.«
Samantha nickte Emmeline, ihrer neuesten Verbündeten, zu.
»Das bin ich, nicht wahr?«
Kyla lugte mit ihrem Kopf aus Agnes’ Rock hervor. »Ich mag sie auch.«
Emmelines kleiner Körper versteifte sich vor Ablehnung.
»Nein, tust du nicht. Ssie gehört mir!«
Samantha nahm Emmelines Hand und beruhigte sie. »Das ist schon in Ordnung. Ich sagte dir ja, jeder mag mich.« Sie setzte sich auf die hölzerne Spielzeugkiste und wies auf Vivian. »Deshalb wird dein Papa mich auch nicht entlassen.«
Vivian rückte etwas näher.
Emmeline lehnte sich an sie.
»Außerdem komme ich aus London, und ich weiß überhaupt nichts vom Leben auf dem Lande.«
»Wirklich?«, fragte Agnes.
Samantha konnte förmlich sehen, wie sich die Räder in ihrem Kopf drehten, während sie sich allen möglichen Unfug überlegte.
Zu schade, dass Samantha andere Pläne hatte. »Aber ich weiß jede Menge über Mode, und die Uniformen, die ihr tragt, sind scheußlich.«
Agnes und Vivian sahen sich an, dann ihre Kleider.
Samantha fuhr fort: »Ich habe einige Bordüren dabei, mit denen wir sie besticken können, um sie etwas hübscher zu gestalten.«
»Oh, wirklich?«, schrie Vivian begeistert. »Es macht mich krank, dieses schreckliche alte Ding Tag für Tag zu tragen.«
»Vielleicht kann euer Papa uns etwas Stoff besorgen lassen f ü r neue Kleider. Für unseren Nähunterricht natürlich.« Sie blinzelte Agnes zu.
Agnes funkelte sie an.
Kyla eilte zu ihr, pflanzte sich vor Samantha auf und fragte:
»Bekomme ich auch ein hübsches Kleid?«
Agnes runzelte die Stirn und wandte sich ab.
Samantha war klar, dass sie um die Loyalität von Agnes würd e kämpfen müssen, als sie Kylas Wange streichelte. »Natürlich bekommst du auch eins, Schätzchen.«
Ohne Vorwarnung wurde die Tür aufgerissen und schlug gegen die Wand.
Mit weit geöffneten Augen erhob sich Samantha von der Spielzeugkiste und umklammerte Emmelines und Henriettas Hand.
Im Türeingang stand ein Mann. Er war groß, breitschultrig . . . irgendwie vertraut. Er verfügte über kräftiges, gesundes, dunkles Haar, das ordentlich geschnitten war und Gesicht und Ohren frei ließ. Glatt rasierte, markante Wangenknochen mit interessanten Vertiefungen darunter. Ein kantiges, entschlossen vorgerecktes Kinn. Eine dünne Nase. Eine lange Nase. Einige würden sagen, eine große Nase, und dazu noch eine, die sich verächtlich kräuselte.
Er überflog den Raum mit einem Blick, der sekundenlang abwechselnd auf jedem einzelnen Mädchen haften blieb.
Sie starrten ihn ebenfalls an, stumm und trotzig.
»Guten Tag, Papa.« Agnes stolzierte auf ihn zu.
Jetzt war Samantha klar, warum ihr die Stimme und das Gebaren des Mädchens bekannt vorkamen. Agnes war genau wie ihr Vater. Gebieterisch, entschlossen … unausstehlich.
Der Mann von gestern Nacht war niemand anders als Samanthas neuer Dienstherr, Colonel William Gregory.
Kapitel 4
Im Tageslicht sah Colonel Gregory sogar noch besser aus – und noch gefährlicher – als in der Dunkelheit. Er trug schwarz. Einen schwarzen Anzug aus Wolle. Schwarze Stiefel, die so glänzten, dass sie einen geradezu blendeten. Ein weißes Hemd, frisch gestärkt und gebügelt. Und eine schwarze Krawatte, die mit
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