Die widerspenstige Lady
entlasten – wenn ihm dies auch nicht im Mindesten zusagen würde. Eigentlich hatte Hugo nie wieder eine Haushälterin nach Rosemont holen wollen. Wenn er sich auch keinesfalls der gleichen Indiskretionen schuldig gemacht hätte wie der eigene Vater.
„Lass nur, Michael“, rief er dem Diener zu, der ihm die Reitjacke hatte abnehmen wollen. „Ich behalte sie an.“
Der junge Mann wandte sich um. Er war klein und schmal, anders als die meisten Lakaien, die von ihren Arbeitgebern hauptsächlich wegen ihres guten Aussehens eingestellt wurden. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Der Herr hatte ihn offenbar nicht vergessen und erinnerte sich sogar noch seines Namens. Im Gegensatz zu den meisten Aristokraten kannte Hugo alle seine Angestellten und rief sie nicht nach der Tätigkeit, für die sie bezahlt wurden.
Hugo betrat die Bibliothek. Hier fühlte er sich am wohlsten in ganz Rosemont.
Mit einem zufriedenen Seufzer betrachtete er die hohen Sprossenfenster, die das warme Sonnenlicht des Spätnachmittags hereinließen. Es spiegelte sich im gemaserten Holz des Parketts und dem Glas der Bücherschränke, die an der gegenüberliegenden Wand vom Boden bis zur Decke aufragten. Im riesigen Kamin prasselte ein Feuer. In einem großen alten Haus wie diesem blieb es selbst zu dieser Jahreszeit noch kühl.
Er trat zum Schreibtisch und griff nach der Karaffe. Dann goss er sich großzügig ein und nahm einen kräftigen Schluck.
„Oh“, war hinter ihm eine Frauenstimme zu hören. „Ich glaube, Sie haben hier nichts zu suchen.“
Rasch trank er aus und schenkte nach, ohne sich umzudrehen. Zweifellos würde er noch ein Gläschen brauchen. Da war er sich ganz sicher.
„Das Anwesen befindet sich in Privatbesitz. Der Eigentümer ist lediglich derzeit nicht daheim“, sprach die Frau ein wenig atemlos, aber dennoch in scharfem Ton weiter. „Am besten machen Sie sich auf der Stelle davon, bevor ich Sie von einem der Diener hinauswerfen lasse.“
Nach einem weiteren genussvollen Schluck wandte er sich endlich langsam um und betrachtete sein Gegenüber. Die Fremde war hochgewachsen und unglaublich dünn. Das spitze Kinn und die übergroßen braunen Augen wollten kaum zu dem schmalen Gesicht passen. Das blassblonde, von grauen Strähnen durchzogene Haar war im Nacken zu einem festen Knoten gebunden. Ihre Miene verriet milde Verärgerung.
„Ich hatte noch nicht das Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen, falls ich mich nicht irre, Madam“, erklärte er lässig und leerte das Glas.
Trotzig richtete sie sich auf. „Fein beobachtet. Und daran wollen wir auch nichts ändern.“ Damit zog sie an der Klingelschnur neben dem Kamin.
„Sie halten sich wohl mit Lady Fenwick-Clyde hier auf?“
„Richtig.“ Steif wie ein Stock stand sie in dem hellvioletten Kleid vor ihm.
Er stellte den leeren Schwenker ab. Seine zweite unerwartete Begegnung mit einer Frau heute versprach nicht halb so amüsant zu werden wie die erste. Knapp verneigte er sich. „Da wir einander wohl noch eine Weile das Leben schwer machen werden, möchte ich mich Ihnen vorstellen.“ Sie wollte etwas entgegnen, doch er sprach weiter. „Sir Hugo Fitzsimmon – Ihr Gastgeber.“
Entsetzt weitete sie die wasserblauen Augen, und eine zarte Röte stieg ihr in die Wangen. „Himmel, wie furchtbar! Das passt ja gerade überhaupt nicht!“
Mit Mühe verbiss er sich ein Lachen.
„Wie reizend“, antwortete er. „Ich vermute, Sie sind Lady Fenwick-Clydes Gesellschafterin?“
„In der Tat. Wie ich Ihnen versichern darf, Sir, hatten wir nicht mit Ihrem Eintreffen hier in nächster Zeit gerechnet.“ Sie schüttelte den Kopf. „Leider erlaubt Ihr Ruf nicht einmal einer Witwe im Beisein einer Anstandsdame unter Ihrem Dach zu verweilen.“
Gleichmütig zuckte er die Schultern. „Dann sollten Sie ins nahe gelegene Gasthaus umziehen. Die Zimmer sind sauber und die Speisen einigermaßen genießbar.“
„Könnten Sie nicht einfach noch eine Weile dahin zurückgehen, wo Sie gerade herkommen?“
Hörte er plötzlich schlecht, oder beliebte die Dame zu scherzen? Nein, wenn er ihr ernstes Gesicht so betrachtete, war wohl davon auszugehen, dass es ihr Ernst war – und zwar jedes Wort!
„Schließlich hat Ihr Verwalter uns die Erlaubnis erteilt, uns hier ungestört aufzuhalten, solange Bell und die anderen eben brauchen, bis sie mit den Ausgrabungen fertig sind“, fuhr sie ungerührt fort.
War er möglicherweise doch in Waterloo gefallen und nun mitten in der Hölle
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