Die Wiederkehrer
angewandt hatte, später im Beruf und dann natürlich auch in der Beziehung mit Karin.
Möglicherweise war es falsch.
Niko hatte zu weinen begonnen wie ein kleines Kind. Die ganze Nacht schüttelte es ihn durch und er verbrauchte eine ganze Klopapierrolle, um sich von den ekligen Tränen zu befreien und die laufende Nase zu säubern. Ihm war, als könnte er nie wieder aufhören zu schluchzen, müsste ab nun für immer weinen. Es war eine Qual, es war schrecklich und es war ihm unsäglich peinlich. Auch wenn es niemand sah – Niko schämte sich vor sich selbst. Was war er denn? Ein Jammerlappen? Kinder weinen. Frauen weinen. Männer
nicht!
Als vor einem Jahr sein kleiner Bruder bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, hatte er auch nicht geweint.
„Wir alle sterben früher oder später“, hatte er nur trocken dahergesagt und zum Entsetzen aller Trauergäste mit den Schultern gezuckt. Letzte Nacht aber schrie Niko nach Benjamin, hasste ihn für seine Fahrlässigkeit, dafür, dass er ihn im Stich gelassen hatte und Niko ihn nun so schmerzlich vermissen musste. Und
wie
Niko seinen Bruder vermisste! Die Dämme brachen nach und nach: Niko trauerte um die heißgeliebte Großmutter, die nur einen Monat nach Benni verstorben war, um Karins Vater, der zwei quälende Jahre lang an Krebs krepiert war. All das hatte Niko emotionslos hingenommen, war immer sofort dagewesen, wenn man ihn gebraucht hatte – man konnte ja wirklich
alles
von ihm haben – aber gefühlt hatte er nichts. Zumindest bis vergangene Nacht. Plötzlich quälten ihn sogar Dinge, die Jahrzehnte zurücklagen, die in seiner Kindheit passiert waren. Er spürte ein tiefes bodenloses Loch, weinte um verpasste Chancen und zerbrach an der dumpfen Ahnung, dass ihm etwas Wichtiges im Leben völlig entgangen war. Es war der reinste Horrortrip.
Am Morgen brachte Niko kaum die Augen auf, so geschwollen waren sie und jeder Knochen tat ihm weh. Er fühlte sich, als hätte er die ganze Nacht in der Trommel einer riesigen Waschmaschine verbracht, wäre stundenlang im Schleudergang polternd hin und her geworfen worden. Niko wurde erst aus dem Schlaf gerissen, als Karin das Haus verließ und dabei hinter sich kräftig die Tür zuschmiss. Auf dem Klodeckel hatte sie ihm einen kleinen gelben Notizzettel mit folgender Nachricht hinterlassen:
'Heute Abend bist du raus! Was du bis zum Wochenende nicht abgeholt hast, landet auf dem Müll!'
Schock! Über diese Konsequenz ihrer Trennung hatte Niko bis zu diesem Augenblick noch gar nicht nachgedacht. Das war Karins Wohnung! Verdammt! War Niko jetzt obdachlos? Wo sollte er bloß hin? Seine Freunde hatten gerade erst Familien gegründet und konnten keinen Versager auf ihrer Couch gebrauchen. Seine Eltern? Undenkbar! Niko hatte sich bei seinem Auszug geschworen, nie wieder in das Haus seines Vaters zurückzukehren. Blieb nur noch ein Hotel. Gott, wie trostlos!
Niko saß bereits im Auto, um zur Arbeit zu fahren, da läutete das Handy. Sein Vater! Wann hatte dieser zuletzt angerufen? Noch nie! Den Kontakt hielt Nikos Mutter. Sie brauchte jemanden, der ihre Klagelieder anhörte und dem sie die Schuld an ihrem Unglück zuweisen konnte. Was war so dringend, dass ihn sein Vater um acht Uhr morgens anrief? Das konnte nichts Gutes bedeuten. Mit einem mulmigen Gefühl ging Niko ran. Schlimm genug, dass er selbst die ganze Nacht geheult hatte – jetzt musste er seinem Vater auch noch am anderen Ende der Leitung beim Schluchzen zuhören. Nikos Vater hatte noch nie geweint. Männer weinen nicht. Frauen weinen. Kinder weinen. Männer nicht! Doch jetzt schluchzte sein Vater und bekam kaum ein verständliches Wort heraus. Er steckte Niko – der immer noch völlig aufgerieben war – damit an.
„Was ist denn los“, schluchzte Niko ins Telefon. Herrgott, was waren die Scheiffler-Männer doch für Jammerlappen!
„Mama hat Krebs“, brachte Nikos Vater schniefend hervor. Die Eltern sprachen sich nicht bei ihren Vornamen an, sondern sagten tatsächlich
'Mama'
und
'Papa'
zueinander. Als Niko in der Pubertät gewesen war, hatte er sich darüber den Kopf zerbrochen, ob sie das auch beim Sex so hielten. Vielleicht war es ein Fetisch, den Partner
'Mama'
oder
'Papa'
zu nennen, immerhin wurde das auch in manchen Filmen verarscht.
'Komm zu Mama.'' Komm zu Papa.'
Brrr.
'Mama hat Krebs.'
Aus dem Mund seines Vaters klang das so grotesk, dass Niko losprusten musste. Seine Nerven lagen völlig blank.
'Immerhin bekommt Benni das nicht mehr mit'
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