Die Wiederkehrer
Liebesschnulzen? Er könnte mit seinem Wissen doch geniale Science-Fiction Romane schreiben! Er hatte den technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt miterlebt, die politische Entwicklung, war Zeitzeuge von künftigen Kriegen und Naturkatastrophen. Vielleicht hatte man gewisse Krankheiten ganz ausgerottet – oder diese die halbe Menschheit. Niko fragte sich, welche Filme wohl in die Kinos gekommen waren und ob man diese noch genauso genossen hatte wie heute! Oder ob es bereits virtuelle Welten gegeben hatte, die sich in Erleben und Fühlen von der Realität kaum mehr unterschieden? Niko musste schmunzeln. Er stellte sich Fragen über die Zukunft, als läge diese in der Vergangenheit. Bernd hatte recht. Das mit den Zeiten musste Niko noch in den Griff kriegen. Wenn er vor seinen Freunden oder Ben so zu reden anfinge, würden sie ihn zum Arzt schicken.
Es war erst zehn Jahre her, aber auch die Art, Kontakte zu seinen Mitmenschen zu knüpfen und zu halten, hatte sich völlig verändert. Als Niko dreißig gewesen war, war es so einfach und bequem gewesen. Man konnte ungesehen am Leben der anderen teilhaben. Auf Facebook erfuhr man Neuigkeiten, Interessen, Sorgen und Vorlieben über Freunde, ohne sie danach fragen zu müssen. Man bekam die Informationen praktisch geschenkt, ohne sich darum bemühen zu müssen und ohne den Preis, dazu eine Meinung oder sonstiges Feedback abgeben zu müssen. Man wurde nicht durch spontane Geständnisse oder Gefühlsausbrüche in die Enge getrieben, konnte einfach darüber hinwegsehen und sich über das nächste saukomische Meme amüsieren. Man brauchte keine Betroffenheit auszudrücken, wenn man damit Probleme hatte, denn es gab immer genug andere – oft sogar Wildfremde, die das gerne und viel besser für einen übernahmen. Manche Menschen waren richtig gut darin – schienen sich wie Maden an den Sorgen fremder Menschen vollzufressen. Selbst wenn man sich wochenlang bei niemandem meldete, kam keiner auf die Idee, dass man sich rarmachte oder kein Interesse hatte. Pure Anwesenheit auf den Plattformen reichte und wurde bereits als soziale Interaktion gewertet. Umgekehrt konnte man hinter Leuten her sein, ohne dass sie das Interesse bemerkten und vielleicht angepisst waren oder lästige Gegenfragen stellten. Man erwartete keine persönliche Anwesenheit mehr – der neue Vorwurf lautete:
'Du warst schon lange nicht mehr auf Facebook.'
Aber jetzt musste Niko die Leute direkt anrufen, wenn er wissen wollte, was es Neues gab. Seine Neugier war sichtbar, und selbst wenn er sich über Dritte informierte, war klar: Niko will es wissen. Wenn er also nach Raffael Hagen fahnden wollte, blieb Niko nichts weiter übrig, als jeden den er kannte persönlich zu fragen, Telefonnummern zu sammeln und so die Kreise immer größer ziehen. Bald würden alle wissen, dass er einen Raffael Hagen suchte. Was sollte er darauf antworten, wenn sie wissen wollten, warum er ihn suchte? Niko könnte ihnen doch wohl kaum die Wahrheit sagen.
Aber was sollte er stattdessen tun? Eine Anzeige aufgeben? In einer …
Zeitung?
Über diese Kontaktanzeigen hatte sich Niko immer lustig gemacht. Sie klangen so skurril und verzweifelt. Was sollte er überhaupt hinein schreiben?
Suche Dich, Raffael Hagen, mein Schutzengel hat mir aufgetragen Dich zu lieben?
Lächerlich! Das war genau die Sorte Inserat, über die sich Niko stets kringelig gelacht hatte. Vielleicht waren viele dieser Anzeigen doch ernster gemeint, als es auf Außenstehende wirkte?
Stunden später warf Niko das Handy frustriert aufs Sofa. Er hatte alle Nummern angerufen, die er abgespeichert hatte. Sogar seine Mutter und den Chef. Er hatte mühsame wie anregende Gespräche geführt. Aber niemand hatte auch nur ansatzweise von einem gewissen Raffael Hagen gehört – aber – man versprach ihm, sich umzuhören. Auf die Gegenfrage, wer das denn sei und warum er ihn suche, hatte Niko sich eine Notlüge ausgedacht. Raffael Hagen, so behauptete er, habe ihm aus einer peinlichen Klemme geholfen und er wollte sich revanchieren, habe jedoch die Telefonnummer verloren. Er variierte die Geschichte ein bisschen, je nach weiteren Fragen, blieb aber im Großen und Ganzen dabei – die Leute redeten ja untereinander.
Irgendwie war Niko aber auch froh darüber, dass er noch nicht fündig geworden war. Es gab ihm Zeit, sich derweil auf Bernd einzulassen – wie weit auch immer er mit ihm gehen wollte. Raffael Hagen fiel für Niko aktuell noch in die Kategorie
'Arbeit'
und
Weitere Kostenlose Bücher